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Gesellschaft

Wo Heimat ist: Recht auf ein Zuhause in Görlitz

Melina Grundmann
23. April 2018

Ein Kulturcafé als Begegnungsstätte. 1000 Flüchtlinge, 3000 Polen. Deutsche, die ihre Heimat verloren haben. Eine starke AfD. In Görlitz prallen Welten aufeinander, wenn es um die Frage geht, wie Heimat gelebt wird.

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Görlitz von oben
Bild: Melina Grundmann

Görlitz ist der östlichste Zipfel Deutschlands. Überall werden hier die Probleme einer Grenzstadt sichtbar, deren Bürger sich nicht richtig einig werden - die einen sind für Abschottung, die anderen für Offenheit. DW-Reporterin Melina Grundmann hat Görlitz für unsere Miniserie "Wo Heimat ist..." besucht und festgestellt, dass die Menschen hier unterschiedliche Vorstellungen von Heimat haben.
 

Donnerstag, 11.30 Uhr. Endstation Görlitz. Viele Leute sind es nicht, die hier in Deutschlands östlichster Stadt, direkt an der polnischen Grenze, aussteigen. Ich schaue mich um: In diesem Moment bin ich die jüngste hier - in "Pensionopolis", wie die Stadt scherzhaft genannt wird, weil viele Leute hier hinziehen, nachdem sie in Rente gegangen sind. In Görlitz mit seinen 56.000 Einwohnern ist fast ein Drittel der Bevölkerung über 65, es ist die Stadt mit dem höchsten Altersdurchschnitt in Deutschland - obwohl es in der Nachbarschaft eine Universität mit 3.000 Studenten gibt.

In Görlitz wird schlesische Tradition gelebt

Wenn man durch die hübschen Gassen der Altstadt geht, merkt man schnell, dass Görlitz der letzte Zipfel Schlesiens in Deutschland ist. Schlesien ist heute polnisch; viele deutsche Familien sind nach dem Zweiten Weltkrieg von dort vertrieben worden. Sie und ihre Nachkommen haben ihre Heimat verloren - und leben in Görlitz ihre schlesische Tradition weiter, was überall zu sehen ist.

Die Altstadt von Görlitz
Die Altstadt von GörlitzBild: DW/M. Grundmann

In der Auslage beim Bäcker liegen schlesische Mohnklöße, im Restaurant wird Schlesische Suppe serviert. Zwischen Bunzlauer-Keramik und Schlesienfahnen treffe ich einem Souvenirladen den Journalisten und Historiker Till Scholtz-Knobloch. Die Liebe zu Schlesien ist für ihn und seine Frau ein Stück geistige Heimat: In Form von Erinnerungen, zum Beispiel an die vergilbten Aufnahmen von Schlesien an den Wänden der Häuser ihrer Großeltern. Auch Redewendungen und der Dialekt seien Dinge, die sie geprägt haben und die man irgendwann selbst übernommen habe, erzählt Scholtz-Knobloch. "Für mich setzt sich Heimat aus drei Komponenten zusammen. Das ist einmal das persönliche Umfeld, das sind die Menschen, die da sind. Das ist der Ort. Es ist aber auch die Zeit - und die Zeit ändert sich und damit ändert sich natürlich auch das Heimatgefühl. Man kann eine Heimat nicht in Unendlichkeit rekonstruieren", so Scholtz-Knobloch.

"Heimat ist nicht nur ein Wort, das mit H anfängt und mit t endet"

Auch die 70-jährige Witwe Marianne Scholz-Paul möchte ihr persönliches Heimatgefühl am Leben erhalten. Auf traditionellen schlesischen Töpfermärkten, sogenannten "Tippelmärkten", trägt sie in Tracht Lieder und Gedichte vor und versucht so, die Erinnerungen an die schlesische Heimat aufrechtzuerhalten. "Der Begriff Heimat ist nicht nur ein Wort, das mit H anfängt und mit t endet, da liegt so viel Seele drin. Wer seine Heimat liebt und daran hängt, der kommt mit dem Entreißen der Heimat wenig klar", sagt Marianne Scholz-Paul, deren Eltern nach dem zweiten Weltkrieg aus dem heutigen Polen vertrieben wurden. Während wir in einem polnischen Restaurant auf Rotkohl und Klöße warten, liest sie mir Texte über Heimat vor, die sie für eine regionale Zeitung geschrieben hat. Dabei laufen Tränen über ihre Wangen.

Marianne Scholz-Paul
Erinnerungen sind Marianne Scholz-Paul sehr wichtigBild: DW/M. Grundmann

Die Suche nach der Heimat bestimmt das Leben der Witwe, sie ist der Grund für die Rückbesinnung auf alte Traditionen. "Jemand hat mal gesagt: 'Wenn du nicht weißt wo du herkommst, wirst du auch nicht wissen wo du hin willst.' Die Herkunft ist bedeutsam, denn man ist ja nie das Produkt eines Zufalls sondern der eigenen Eltern, die mit ihren Geschichten irgendwo gelebt haben", so Scholz-Paul. Für sie sind schlesische Traditionen ein Alleinstellungsmerkmal von Görlitz.

Heimatgefühl ist mehr als Vergangenheitssehnsucht

Johannes Hübner, 29, kam vor ein paar Jahren als Student nach Görlitz und hat im letzten Sommer gemeinsam mit ein paar Freunden und Geflüchteten das Kulturcafé "Hotspot" in Görlitz eröffnet. Es soll neu ankommenden Flüchtlingen ein kleines Stück Heimat, oder zumindest eine Anlaufstelle bieten. Für Johannes bedeutet Heimat alles andere als Vergangenheits-Sehnsucht: "Dann bleibt sie ein fades Gefühl, ein Traum, dem man nachhängt". Das mache für ihn keinen Sinn. Johannes sieht Heimat als einen Prozess, in dem das Heimatgefühl immer wieder neu konstruiert werden muss - gemeinsam mit den Menschen vor Ort. "Das ist ein relativ variables Konstrukt und natürlich ist es irgendwie damit verbunden, dass man sich wohlfühlt", sagt er.

Café Hotspot  Johannes sitzt auf einem Sofa
Der 29-jährige Student Johannes wünscht sich ein Heimatgefühl, das sich weiterentwickeltBild: DW/M. Grundmann

Noor Hammada ist meistens einmal pro Woche im Café Hotspot. Er ist 19 Jahre alt und kommt aus Syrien. "Für mich ist Heimat da, wo ich Arbeit habe", sagt Noor. Da es in Görlitz mit Arbeitsplätzen eher schlecht aussieht, denkt er nicht, dass er hier auf Dauer eine Perspektive hat. Aber Orte wie das Café Hotspot bringen zumindest ein bisschen Heimatatmosphäre nach Görlitz: "Hier gibt es arabischen Kaffee und viele Leute, mit denen ich mich auf Arabisch unterhalten kann."

Manche glauben, es sei nicht genug Heimat für alle da

In Görlitz wohnen etwa 3.400 Polen, die wegen ihrer Arbeit hierhergezogen sind. Das gefällt einigen ganz und gar nicht. "Wir holen uns Warschau nach Deutschland", sagt der selbstbezeichnete "Urgörlitzer" und Regionalleiter der rechtspopulistischen Partei AfD in Görlitz Hajo Exner, als ich ihn am gleichen Abend, fast gegenüber vom Café Hotspot im "Nachtschmied", einem altdeutschen Traditionsrestaurant treffe. "Wir haben in Görlitz einen permanenten Zuzug aus Osteuropa, insbesondere aus Polen. Wenn ganze Straßen und ganze Häuser gefüllt mit polnischen Familien sind, das überfordert die Leute", sagt Exner leise, während er seinen Kaffee schlürft. Wenn es nach ihm ginge, würden an den Grenzen wieder Sichtkontrollen eingeführt werden und die wenigen Arbeitsplätze, die Görlitz bietet, den Einheimischen vorbehalten.

AFD Veranstaltung im 'Nachtschmied'
AfD-Mitglieder diskutieren im "Nachtschmied"Bild: DW/M. Grundmann

Zwei Hauptarbeitgeber der Stadt, die Firmen Siemens und Bombardier, haben im vergangenen Jahr große Umstrukturierungen angekündigt. Nun haben etwa 2000 Leute Angst um ihre Jobs. Diese Angst spielt der AfD in die Hände, wie sich bei einer Parteiversammlung am späteren Abend zeigt: "Jeder von euch hat bestimmt schon einmal im Leben seinen Job verloren. Ihr wurdet gedemütigt. In der Wahlkabine könnt ihr zeigen, dass ihr euch das nicht mehr gefallen lasst", sagt Maximilian Krah von der Dresdener AFD, der als Sprecher extra angereist ist. Er ist sich sicher, dass die "Revolution" nur von Görlitz aus starten kann. Denn auf die Görlitzer könne man sich verlassen. Der Kreis Görlitz zählte mit über 30 Prozent der Wählerstimmen bei der letzten Bundestagswahl zu den AFD-Hochburgen.

Ein Ort, an dem man Heimat ständig neu erfindet

Johannes Hübner vom Hotspot-Café glaubt, dass ein solches Konzept einer konservativ belegten und rückwärtsgewandten Perspektive in Görlitz nicht funktionieren kann. "In einer Region, die so strukturschwach ist und so von Abwanderung geprägt ist wie Görlitz, ist es vollkommen abwegig, ein Konzept von 'Urgörlitzern' durchsetzen zu wollen. Meiner Meinung nach kann so eine Region nur durch Zuwanderung und durch neue Leute, die neue Einflüsse hereinbringen, belebt werden". Er glaubt, dass diese Region den Raum bietet, eine neue Form von Heimat zu kreieren.

Das könne aber nur funktionieren, sagt Johannes, wenn man das Konzept von Heimat im traditionellen Sinn nicht konservativ und fremdenfeindlich auflädt. Gleichzeitig müsse eine moderne Auffassung von Heimat nicht nur schwammig formuliert, sondern gelebt werden – in Form eines Ortes, an dem man Heimat ständig neu erfindet und aktiv mitgestaltet.