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"Wir sind zu Tieren degradiert"

27. August 2004

Das Ghetto in Lodz wurde vor 60 Jahren liquidiert - Gedenkveranstaltung im Rahmen des Festivals der Kulturen in Lodz

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Bonn, 26.8.2004, DW-RADIO, Kirsten Serup-Bilfeldt

In der Kulturszene Polens spielt Lodz eine besondere Rolle. Es ist die Heimatstadt Arthur Rubinsteins, beherbergt zahlreiche Theater und Museen, hat eine bedeutende Filmhochschule, die Regisseure wie Roman Polanski und Andrzej Wajda hervorgebracht hat und vieles mehr. Um an das einst friedliche Zusammenleben von Polen, Deutschen, Russen und Juden anzuknüpfen, findet in Lodz nun schon zum dritten mal das "Festival der vier Kulturen" statt.

In diesem Jahr allerdings wird den Werken und Aufführungen polnischer, deutscher, russischer und jüdischer Künstler am kommenden Sonntag eine Gedenkveranstaltung vorangestellt: denn 60 Jahre ist es her, dass das jüdische Ghetto von Lodz von den deutschen Besatzern aufgelöst wurde. Von ursprünglich 223 000 Juden, die in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in Lodz beheimatet waren, überlebten nur wenige Tausend den Holocaust (Schoa). Kirsten Serup Bilfeldt erinnert an das Ghetto in Lodz, das damals Litzmannstadt hieß:

"Die Juden waren fast ausnahmslos gut gekleidet; sie führten durchschnittlich pro Person 50 kg Gepäck mit sich. Über die berufliche Zusammensetzung der Juden ist dem Abschnittskommando nichts bekannt. Die Einweisungspapiere, das mitgeführte Geld - pro Person 10 RM - wurden durch den Transportführer den Beamten der Geheimen Staatspolizei Litzmannstadt, Kommissar Fuchs übergeben... Das Ausladen geschah in der Weise, dass jeweils die Juden aus sechs Eisenbahnwaggons zu einem Trupp zusammengestellt und von zwei Schutzpolizeibeamten bis zum Ghettotor begleitet wurden..."

So lautet der "Erfahrungsbericht", den ein "Hauptmann der Schutzpolizei und stellvertretender Abschnittskommandeur" über die "Einweisung von 20 000 Juden und 5 000 Zigeunern im Herbst 1941 in das Ghetto Litzmannstadt" verfasste. "Litzmannstadt" - das war der Name, den der Nationalsozialisten der zweitgrößten polnischen Stadt Lodz gegeben hatten. Nach dem deutschen Überfall auf Polen im September 1939,war Lodz im November 1939 dem Deutschen Reich als Teil des "Reichsgaus Wartheland" einverleibt worden. Im April 1940 wurde die Stadt mit der nach Warschau zweitgrößten jüdischen Gemeinschaft in Polen nach dem deutschen General des Ersten Weltkriegs und NS-Würdenträger Karl Litzmann benannt.

Zuvor, im Februar 1940, hatten die Deutschen bereits die Altstadt von Lodz, das Elendsviertel Baluty und die Vorstadt Marysin zum festen Ghettogelände erklärt und die jüdische Bevölkerung dorthin getrieben. Am 30. April desselben Jahres wurde das Gelände hermetisch von der Außenwelt abgeriegelt. Lodz galt als das am vollständigsten isolierte Ghetto in Polen. Auf engstem Raum zusammengepfercht, vegetierten dort rund 164 000 Menschen.

Ab Herbst 1941 verschärften sich die Lebensbedingungen im Ghetto noch weiter, da immer wieder neue Transporte mit insgesamt 20 000 deportierten Juden aus Österreich, Böhmen und dem "Altreich" in Lodz ankamen. Solche Deportationen aus dem "Reich" in den Osten hatte es bereits seit 1938 immer wieder gegeben, wie Dr. Barbara Becker-Jákli, Historikerin am Kölner NS-Dokumentationszentrum, erläutert:

"Dazu zählt man die sogenannte Polenaktion" vom Oktober 38, als von Köln aus wie von anderen Städten ja auch Leute polnischer Staatsangehörigkeit nach Polen deportiert wurden, also Menschen, die hier seit Jahrzehnten gelebt haben, wurden nach Polen deportiert. Polen hat sie nicht aufgenommen; sie sind dann im Niemandsland gestrandet. Das war die erste Deportation."

Doch nur wenige Jahre später setzt die große Welle der Deportationen ein. Sie ging in die Ghettos und Vernichtungslager in Polen und im Baltikum - mit einem klaren Ziel:

(Barbara Becker-Jákli) "Die eigentlichen Deportationen, die eine Ermordung, eine Tötung in Massen beabsichtigten, das waren die Deportationen vom Herbst 1941. Und da sind von Köln aus die ersten am 21. Oktober 1941 nach Lodz, am 30. Oktober 1941 nach Lodz; und die dritte große Deportation mit jeweils dann auch wieder 1000 Menschen war die nach Riga am 8. Dezember 41."

Wie die Vorbereitungen zu den Deportationen abliefen, was die Menschen aus dem "Altreich" erlebt hatten, bevor sie nach tagelanger qualvoller Fahrt in verbarrikadierten Viehwaggons "im Osten" ankamen - das hat der Kölner Jude Hans Bermann im Oktober 1941 beschrieben. In einer Gedenkveranstaltung wurde kürzlich in Köln aus seinen Aufzeichnungen zitiert:

(Textlesung von Hans Bermann) "Die Evakuierung hat man uns kurz vorher durch die Gestapo Köln mitgeteilt. Zugleich erging die Auflage, jeden Verkauf irgendwelcher Gegenstände zu unterlassen. Dagegen sollte alles außer den Möbeln verpackt werden. Zugleich musste jede von der Evakuierung betroffene Familie eine Waschwanne gefüllt mit Lebensmitteln bereitstellen. Mit sechs Koffern, drei Rucksäcken, Hand- und Aktentaschen traf meine Familie zum festgesetzten Zeitpunkt im Kölner Messegelände ein. Der Transport umfasste rund 1000 Personen. Unser Gepäck wurde auf Wertgegenstände untersucht; Schmuck, Uhren, Trauringe sowie sämtliche Legitimationspapiere wurden uns abgenommen. Nach einer neuen Leibesvisitation wurden jeder Person lediglich zehn Mark gelassen. Man trieb uns dann in den großen Saal der Messehalle, um die ein Stacheldraht gezogen war und ließ uns 24 Stunden in nassen Hobelspänen liegen."

Wer nach solchen und weiteren Strapazen schließlich im Ghetto Lodz ankam, fand dort noch katastrophalere Zustände vor. Die auf engstem Raum eingesperrten Menschen starben an Hunger, Seuchen und den Folgen der schweren Zwangsarbeit, die sie in den Fabriken für die Wehrmacht leisten mussten.

"Wir leben im Gefängnis. Wir sind zu heimatlosen, sich selbst überlassenen Tieren degradiert...", notiert ein namenlos gebliebener Ghettobewohner auf einem Stück Papier.

Nachdem im Januar 1942 in der Wannseekonferenz die "Endlösung der Judenfrage" beschlossen worden ist, werden in mehreren Deportationswellen über 70 000 Menschen aus dem Ghetto Lodz in das rund 60 Kilometer westlich gelegene Vernichtungslager Chelmno gebracht und dort ermordet. Anfang Mai 1944 befiehlt Heinrich Himmler dann die "endgültige Räumung" des Ghettos. So werden schließlich in den Monaten Juli bis August 1944 noch rund 68 000 Überlebenden des Ghettos nach Auschwitz verschleppt und dort umgebracht.

Am 19. Januar 1945 wird Lodz von den nach Westen vorstoßenden sowjetischen Truppen befreit. (TS)