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"Wir müssen wettbewerbsfähiger werden"

Manuela Kasper-Claridge/iw12. April 2016

Europa wächst nur langsam. Das ist kein Grund zur Verzweiflung, sondern ein Grund für Strukturreformen. Die Produktivität lässt sich immer noch steigern, meint EU-Kommissar Jyrki Katainen im Gespräch mit der DW.

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Bildergalerie EU Kommissare Jyrki Katainen
Bild: Reuters/Yves Herman

DW: Wie beurteilen Sie die Wirtschaftslage der Europäischen Union?

Jyrki Katainen: Die Wirtschaft wächst. Allerdings sind die zwei Prozent Wachstum, die wir im nächsten Jahr erwarten, zu wenig. Auch wenn die europäische Wirtschaft unter externen Schocks aus den USA oder China und weltweiten Unsicherheiten leidet, sollten wir unsere internen Schwächen nicht ignorieren. Das Hauptproblem Europas, seine Schwachstelle gewissermaßen, sind veraltete Strukturen. Dabei sind die Probleme in den Ländern verschieden gelagert. Beispielsweise muss in einigen Ländern der Arbeitsmarkt reformiert werden, in anderen muss der Energiesektor umgebaut werden, um die Energiepreise zu senken. Und in wieder anderen Ländern muss das Justizwesen erneuert werden, um die Rechtswege zu verkürzen.

Europa ist mitten in einem Umstrukturierungsprozess und wir müssen strukturelle Reformen auf nationaler Ebene vorantreiben, um die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Dabei hat Europa einiges zu bieten. Die Bevölkerung ist sehr gut ausgebildet, es gibt gute Hochschulen, wir haben in vielen Wirtschaftsbereichen eine leistungsfähige verarbeitende Industrie. Um daraus möglichst großen Nutzen zu ziehen, müssen wir unsere Wettbewerbsfähigkeit gegenüber nicht-europäischen Ländern erhöhen.

Wie einheitlich ist die Wirtschaft der Europäischen Union? Ist es nicht vielmehr so, dass die Mitgliedsländer der EU sehr unterschiedlich sind und dass das ein wesentlicher Teil des Problems ist?

Die europäischen Länder haben zwar unterschiedliche Strukturen, durch ihre enge Verflechtung miteinander beeinflussen sie aber die europäische Wirtschaft als Ganzes. Es ist somit wichtig, dass die Regeln der Eurozone eingehalten werden und jeder seine Hausaufgaben macht. Da meine Handlungen großen Einfluss auf das tägliche Leben meines Nachbarlandes haben können, habe ich Verantwortung gegenüber meinen Wählern und auch gegenüber allen Europäern. Darum müssen wir die europäische Wirtschaft harmonisieren.

In Großbritannien steht ein Referendum über die EU-Mitgliedschaft an. Wenn es zu einem Brexit kommt, also einem Austritt Großbritanniens aus der EU - was wären die Folgen?

Im Augenblick das weiß niemand. Wenn die Wähler für "Nein" stimmen, ist das ein Sprung ins Ungewisse. Wenn ich aber sachlich über einen Brexit nachdenke, rechne ich mit negativen Folgen. Es gibt nichts Positives zu erwarten.

Hat die Europäische Union einen Plan, wie sie mit einem Brexit umgehen wird?

Nein. Wir haben den Mitgliedsländern geholfen, mit Großbritannien Abkommen zu treffen. Jetzt können wir nur verfolgen, was weiter passiert. Es liegt bei den britischen Wählern, zu entscheiden, ob sie künftig Teil der EU sein wollen oder nicht.

Machen Sie sich Sorgen?

Ja, in einem gewissen Ausmaß. Immer wenn man nicht weiß, was als Nächstes passiert, ist das ein Grund zur Sorge. Es wird immer Platz für Großbritannien in der EU geben und ich glaube, sowohl Großbritannien als auch die EU werden besser dastehen, wenn sie zusammenbleiben und wenn sie gemeinsam die Mitgliedsstaaten und die EU als Ganzes reformieren.

Reden wir von der Eurozone: Der Europäischen Zentralbank (EZB) scheint die Munition ausgegangen zu sein. Was können Europa und die Eurozone tun, um die Wirtschaft wieder zu stimulieren?

Ich glaube nicht, dass der EZB die Munition ausgegangen ist, vielmehr sorgt sie für Stabilität in der Eurozone. Würde sie ihre Politik ändern, würde sich das deutlich auf das Wachstum und die Wirtschaftslage vieler Euroländer auswirken. Vielleicht waren die Erwartungen an die Einflussmöglichkeiten der EZB übertrieben.

Ich glaube, solange die Wettbewerbsfähigkeit vieler Mitgliedsländer gegenüber Nicht-EU-Ländern so schwach ist, kann die EZB gar nicht viel mehr tun. Da bin ich einer Meinung mit EZB-Chef Mario Draghi. Er sagte, die EZB habe ihren Teil getan, jetzt müssten die Regierungen der Mitgliedsländer ebenfalls ihren Teil beitragen, indem sie Strukturreformen einleiten und eine "gesunde" Fiskalpolitik verfolgen.

Einige Ökonomen sprechen von der "neuen Normalität", die aus einem geringeren Wachstum und einer geringeren Produktivität besteht, als wir bislang gewohnt waren. Was halten Sie davon?

Ich glaube nicht an eine solche "neue Normalität" - Das ist nur die Beschreibung der jetzigen Situation. Aber es gibt auch Faktoren, etwa die Digitalisierung, die das Potential haben, die Produktivität enorm zu steigern, wenn Regierungen die richtigen Maßnahmen einleiten. Ebenso können neue Technologien im Gesundheitswesen oder im Bereich der Sozialsysteme die Produktivität im öffentlichen Sektor erhöhen. Auch neue Geschäftsmodelle, beispielsweise im Bereich "share economy", können eine neue Wachstumswelle auslösen.

Eine "neue Normalität" mit niedriger Produktivität und moderatem Wachstum würde dagegen bedeuten, dass unsere Investitionen in Forschung und Entwicklung keine Fortschritte generieren würden und dass die Digitalisierung keine großen Produktivitätsfortschritte bewirken würde. Daran glaube ich nicht. Es kommt darauf an, wie man Dinge angeht. Nichts passiert einfach, man muss die Gesellschaft so reformieren, dass man das Beste aus seinen Vermögenswerten herausholt.

Aber dauert das nicht zulange?

Es dauert. Nichts wird sich über Nacht ändern.

Jyrki Katainen ist Vizepräsident der Europäischen Kommission und zuständig für Beschäftigung, Wachstum, Investitionen und Wettbewerbsfähigkeit. In den Jahren 2011 bis 2014 war er Ministerpräsident in Finnland. Das Gespräch führte Manuela Kasper-Claridge während des jährlichen Ambrosetti Forums in Italien.