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Wie Erdogan Social Media nutzt - und zensiert

Elizabeth Grenier/rk21. Juli 2016

Nach dem Putschversuch in der Türkei hat die Regierung mehrere Social-Media-Kanäle blockiert. Die Zensur in der Türkei hat System. Doch einige Bürger wissen, wie sie sich den Drosselungen und Sperren entziehen.

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Türkei Präsident Tayyip Erdogan in einem Livestream-Video auf einem Smartphone, Foto: (c) CNN Turk/Reuters
Bild: Screenshot/CNN Turk/Reuters

Nach den letzten Terroranschlägen haben Behörden in der Türkei den Zugang zu den wichtigsten Social-Media-Kanälen durch Drosselungen eingeschränkt. Diese Entwicklung hat die Organisation "Turkey Blocks" im Verlauf der letzten acht Krisensituationen in der Türkei beobachtet, zu denen auch die Terrorattacken seit September 2015 zählen. Den Aussagen von "Turkey Blocks" nach dauern die Einschränkungen durchschnittlich zwölf bis 14 Stunden nach einem Ereignis an.

Auch in der Nacht des Putschversuchs vom 15. auf den 16. Juli hat "Turkey Blocks" Social-Media-Plattformen beobachtet:

"Während wir die Seiten beobachteten, hörten wir gleichzeitig die Jets über Istanbul fliegen. Das war ziemlich verrückt", erzählt Alp Toker, der Initiator und Verantwortliche von "Turkey Blocks" im Gespräch mit der DW. Dieses Mal, so Toker, haben die Einschränkungen kürzer als sonst angehalten - ein bisschen weniger als zwei Stunden.

Sobald die Drosselung aufgehoben war, landete der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan seinerseits einen Social-Media-Coup: Über Facebook und WhatsApp wandte er sich direkt an die türkische Bevölkerung und rief zum Protest gegen die Putschisten auf. Auch über Twitter verbreitete er einen Appell.

In dem Tweet an seine acht Millionen Follower forderte Erdogan die Bevölkerung auf, sich zu Flughäfen und öffentlichen Plätzen zu begeben, um sich dem rebellierenden Militär entgegenzustellen.

Zudem wandte sich Erdogan über die Videochat-App "FaceTime" an den Fernsehsender CNN Turk. In dem Chatfenster auf dem Bildschirm eines iPhones war Erdogan zu sehen, wie er vor einem schlichten Vorhang sitzt und spricht. Das Smartphone hielt die Nachrichtensprecherin Hande Firat, die später ihre Nervosität gegenüber der Zeitung "Bild" gestand: "Zu Beginn haben meine Hände gezittert", so Firat.

Erdogans Unterstützer demonstrieren auf der Straße, Foto: Reuters/T. Berkin
Nach dem gescheiterten Putsch, feiern Erdogans Anhänger in IstanbulBild: Reuters/T. Berkin

"Das war außergewöhnlich", sagt Alp Toker. "Normalerweise legt Erdogan viel Wert auf ein sehr formales Auftreten." James Bradshaw, Reporter von "The Globe and Mail", deutet die Situation als "Meilenstein des wachsenden Einflusses von digitalen Medien auf den Verlauf des Weltgeschehens". Der Istanbuler Social-Media-Stratege Serdar Paktin sagt gegenüber der DW: "Das war wahrscheinlich die schnellste Antwort der Regierung, die man sich vorstellen kann."

Tausende von Erdogans Unterstützern antworteten auf seinen Videoaufruf und wurden selbst auf den Social-Media-Plattformen aktiv. "Über Periscope gab es beachtliche Livestream-Videos, die das Ausmaß der Zerstörung zeigten. Das bewegte viele Menschen dazu, auf die Straße zu gehen", so Toker.

Im Vergleich dazu "hatten die Soldaten keine gut durchdachte Kommunikationsstrategie, um die Massen zu erreichen". Sie stürmten einfach große TV-Sender, "auf die altmodische Art", wie es Erkan Saka, Dozent am Institut für Kommunikation an der Bilgi Universität in Istanbul, der DW erklärt.

Wie die türkischen Bürger auf die Sperren reagieren

Sonst ist Recep Tayyip Erdogan nicht für seine Offenheit gegenüber sozialen Medien bekannt, sondern dafür, dass er sie zensiert. Vor allem, wenn er fürchtet, dass sie seinen Kritikern nützlich sein könnten. 2013, während der Proteste im Gezi-Park, bezeichnete Erdogan Twitter als "die schlimmste Bedrohung der Gesellschaft".

Trotz allem ist der türkische Präsident 2009 selbst der Plattform beigetreten und nutzt sie regelmäßig. Die gleiche widersprüchliche Einstellung hat er gegenüber Facebook. Mittlerweile sind die Türkinnen und Türken "aber so sehr an diese Doppelmoral gewöhnt, dass sich niemand mehr darüber beschwert", meint Saka. "Die Türkei ist ein Land geprägt von Paradoxien, Dilemmata und Widersprüchen", sagt Paktin.

Manche Internetnutzer in der Türkei wissen, wie sie Social-Media-Sperren und Einschränkungen umgehen können. Dafür nutzen sie sogenannte VPN-Zugänge (Virtual Private Networks) oder greifen auf Software zurück, die sie anonym im Netz surfen lassen, wie zum Beispiel das bekannte Programm "Tor". "Die meisten Türken kennen sich gut aus", erklärt Saka. Er hat festgestellt, dass viele Bürger mittlerweile begonnen haben, anstelle von WhatsApp "Telegram" oder "Signal" zu nutzen, einen verschlüsselten Sprachnachrichtendienst, den auch Edward Snowden einmal empfohlen hat.

So funktioniert die Interneteinschränkung in der Türkei

Dennoch habe ein großer Teil der türkischen Bevölkerung sich nicht die Mühe gemacht, nach alternativen Zugängen zu den gesperrten Seiten zu suchen, erklärt Toker. Viele Touristen, die Freitagnacht nach Informationen suchten, wussten ebenfalls nicht, wie sie Blockierungen umgehen konnten. So sah der Bildschirm bei Usern aus, die die Blockierung nicht überwinden konnten:

"Turkey Blocks" war die erste Organisation, die anhand konkreter Daten beweisen konnte, dass es eine Form der Drosselung bestimmter Seiten in der Türkei gibt.

Ihre Beobachtungen haben ergeben, dass mittlerweile auch YouTube zu den blockierten Seiten gehört: Nach dem Terroranschlag auf den Istanbuler Atatürk-Flughafen im Juni, war der Zugang zu YouTube erstmals versperrt. "Das ist eine neue Wendung in ihrer Strategie", sagt Toker und ergänzt, dass womöglich YouTube-Videos, die nach dem Terroranschlag in Ankara im März hochgeladen wurden, zu dieser Entscheidung geführt hätten.

Toker betont, die Einschränkungen seien "nicht zentral koordiniert, wie bei der NSA". Auch, wenn die Anweisungen von der türkischen Telekommunikationsbehörde TiB ausgingen, würden die Einschränkungen individuell von den einzelnen Internetanbietern umgesetzt, so Toker.

Zensur und "Säuberungsmaßnahmen" nach dem Putsch

Nach dem Putschversuch scheint es, als würde die türkische Regierung die freie Meinungsäußerung noch stärker einschränken. Die TiB hat nach Angaben mehrerer Quellen den Zugang zu 20 türkischen Internetseiten blockiert. Auch diese Seiten können über alternative Wege aufgerufen werden; doch der Rückgang der Leserzahlen "beeinflusst die Werbeinnahmen der Seiten", erklärt Saka.

Der islamische Geistliche Fethullah Gülen, Foto: picture-alliance/dpa/S. Sevi
Der in den USA lebende islamische Geistliche Fethullah Gülen beteuert, er stecke nicht hinter dem PutschversuchBild: picture-alliance/dpa/S. Sevi/Handout Z. Da

Die meisten dieser gesperrten Seiten wurden beschuldigt, Fethullah Gülen zu unterstützen. Serdar Paktin widerspricht dem: "Eine der Seiten war sogar eine Hardcore-Anti-Gülen-Newsseite."

Besorgniserregende Nachrichten sorgen seit dem gescheiterten Putschversuch für Schlagzeilen: Am Dienstag (19.07) entzog die zuständige Behörde zur Regulierung von Sendeanstalten insgesamt 24 Radio- und Fernsehstationen die Sendelizenz. Die Behörde RTÜK teilte mit, dass die Sender Verbindungen zur Bewegung von Fethullah Gülen hätten.

Das zentrale staatliche Kontrollgremium türkischer Hochschulen wies am Dienstagnachmittag landesweit 1577 Dekane privater und staatlicher Universitäten an, zurückzutreten. Eine Professorin in Istanbul, die der DW zunächst zu einem Gespräch für diesen Artikel zugesagt hatte, sagte ab, da sie an zahlreichen Krisensitzungen teilnehmen müsse. Die türkische Hochschulverwaltung hat laut türkischen Medienberichten bis auf Weiteres Wissenschaftlern und Universitäts-Mitarbeitern die Ausreise verboten. Uni-Mitarbeiter, die sich im Ausland befinden, sollen "so schnell wie möglich" zurückkehren.

Angst führt zu Selbstzensur

Saka hat festgestellt, dass zahlreiche türkische Twitternutzer die Einstellungen ihrer Accounts seit Freitag auf "privat" geändert haben - auch, wenn sie schon tausende Follower haben. Nach den angekündigten "Säuberungen" in Folge des Putschversuchs und Erdogans Drohung, die Todesstrafe wieder einzuführen, "haben viele Menschen Angst, sie zensieren sich selbst", erklärt Saka.

"Die Menschen fühlen sich gezwungen, sich zwischen dem Militär und der AKP entscheiden zu müssen. Wenn man das nicht tut, ist man verdächtig. Dies führt zu Polarisierungen", erklärt Saka.

Öl ins Feuer?

Wikileaks hat am Dienstag 300.000 Mails von Erdogans AKP veröffentlicht, was in der angespannten Situation wie Öl ins Feuer wirken könnte. Auf Twitter teilte Wikileaks einen Link zu den Daten.

Die Enthüllungsplattform sagt, die Mails seien verifiziert worden und würden aus dem Zeitraum von 2010 bis zum 6. Juli 2016 stammen. Wikileaks betont, dass die Quelle für das Material nicht aus dem Umfeld der Putschisten stamme. Die Organisation, deren Slogan "We open governments" - "Wir machen Regierungen transparent" - lautet, verkündete am Montag, dass ihre Seite permanent angegriffen worden sei. Kurz bevor Wikileaks die Veröffentlichung der Emails im Netz bekannt gab, postete es: "Wir haben einen 24-Stunden-Cyberwar gewonnen." Die deutsche Presseagentur (dpa) meldet, türkische Behörden hätten den Zugang zu Wikileaks in der Türkei mittlerweile gesperrt.

Beobachter sagen, dass es angesichts der angespannten Lage und Erdogans "Säuberungen" schwierig werden könnte, türkische Analysten zu finden, die diese Menge an Daten durchforsten und Ergebnisse und Informationen öffentlich machen.