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"Wie Ebola mit Flügeln"

Svenja Üing11. April 2003

Die schlimmste aller Infektionskrankheiten kommt zurück: In russischen Gefängnissen sind bis zu 80 Prozent der Häftlinge mit Tuberkulose infiziert. Die TBC macht auch vor nationalen Grenzen nicht halt.

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Gute Bedingungen für TBC, schlechte für die Menschen: ein Gefängnis in RusslandBild: AP

Zusammengepfercht hocken russische Gefangene in hoffnungslos überbelegten Räumen. Zwischen schimmelnden Wänden schlafen sie reihum in "Schichten" - aus Platzmangel. In einigen Gegenden Russlands steht jedem Gefangenen durchschnittlich nicht einmal ein Quadratmeter zur Verfügung.

Katastrophale Unterbringung, zusammen mit mangelhafter Ernährung und unzureichender medizinischer Versorgung sind der ideale Nährboden für Infektionskrankheiten. Bis zu 80 Prozent der Gefängnisinsassen sind mit Tuberkulose infiziert, rund zehn Prozent von ihnen sind bereits erkrankt. Die Harvard Medical School hat es auf diesen Nenner gebracht: Russland droht ein epidemiologisches Tschernobyl.

Die Krankheit der Armen

In Westeuropa sind die Symptome der Tuberkulose - oder Schwindsucht - nur aus dem Lehrbuch bekannt: löchrige Lungen und blutiger Auswurf. In entlegenen Gebieten Russlands sind sie alarmierende Realität. Die Ausbreitung der Seuche macht vor den Gefängnismauern nicht halt: Sie grassiert überall dort, wo Menschen unter elenden Verhältnissen leben. TBC ist die Krankheit der Armen. Die Risikofaktoren für eine Ansteckung haben sich nach 1989 in erschreckendem Maße ausgebreitet.

Die soziale Misere ist auch eine Folge der halbherzigen Reformen nach der politischen Wende: Überbelegte Wohnungen in schlecht geheizten Häusern und Mangelernährung fördern die Verbreitung von Infektionskrankheiten. In kommunistischer Zeit galten Seuchen als schlimmste Bedrohung - gleich nach dem Klassenfeind. Vorbeugende Untersuchungen waren Pflicht. Der Staat ließ sich die Seuchenbekämpfung und -vorbeugung viel kosten. Dieses System ist zusammengebrochen. Der laxe Umgang mit der Seuche und fehlendes Geld forcieren die Ausbreitungsgefahr.

Die schlimmste aller Seuchen

In westeuropäischen Länder glaubt man, die Tuberkulose sei längst besiegt. Die Schwindsucht, eine Krankheit so alt wie die Menschheit selbst, gerät in Vergessenheit - die westliche West wiegt sich in Sicherheit. Eine Fehleinschätzung, mit unberechenbaren Folgen: Tuberkulose ist die tödlichste unter den Infektionskrankheiten. Jedes Jahr erkranken weltweit acht Millionen Menschen an TBC, drei Millionen von ihnen sterben an den Folgen der Infektion - mehr als an Malaria und AIDS zusammen. Im Frühstadium der Krankheit leiden die Betroffenen an Husten, nächtlichen Schweißausbrüchen und Gewichtsverlust. Im zweiten und dritten Stadium gelangt der Erreger in die Blutbahn, kann Gelenke, Hirnhaut oder Knochenmark infizieren. Nicht selten endet die Krankheit tödlich.

Die Grenzen sind offen

In Zeiten der Globalisierung können auch westliche Industriestaaten ihre Augen vor dem Problem nicht verschließen: Weltweite Wirtschaftskontakte, Fernreisen und Migration fördern die Ausbreitung der Erreger. 1993 erklärte die WHO die Tuberkulose zur globalen Gefahr. "Tuberkulose ist ein brennendes Problem", sagte Robert Loddenkemper, Generalsekretär des Deutschen Zentralkomitees zur Bekämpfung der Tuberkulose, "wir müssen schon aus eigenem Interesse den betroffenen Ländern helfen." Denn: Ein Drittel der Weltbevölkerung ist mit Tuberkulose infiziert.

Verstecken und überleben

Die TBC-Erreger sind Überlebenskünstler und Versteckspieler. Sie verweilen oft Jahrzehnte im Organismus und brechen aus, wenn der Körper geschwächt ist. Die Behandlung der Patienten ist schwierig. Denn die Tuberkulose ist eine Infektionskrankheit, die über Monate konsequent und mit mehreren Medikamenten zeitgleich bekämpft werden muss. Wenn man die Therapie vorzeitig abbricht oder nur einen Teil der Medikamente einnimmt, entwickeln die Erreger ihre eigene Abwehrstrategie: Im erkrankten Organismus entstehen resistente oder sogar mehrfach-resistente Tuberkelbakterien, die auf die Behandlung mit Medikamenten nicht mehr ansprechen.

Genau das ist in Russland passiert: In Gefängnissen und Armenvierteln ist eine effektive Therapie undenkbar. Die Versorgung mit Medikamenten ist unzureichend und eine konsequente Behandlung nicht möglich. Selbst in den Tuberkulose-Krankenhäusern sind rund 15 Prozent der Patienten von mulitresistenten Erregern befallen. Eine abgebrochene Therapie ist letztlich jedoch gefährlicher als gar keine: "Die mehrfach resistente Tuberkulose ist wie Ebola mit Flügeln", warnte schon 1997 Richard Bumgarner von der WHO.