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Krisztina Tóths Roman "Aquarium"

Sabine Peschel4. Juli 2015

Was macht das Leben schön? Für eine jüdische Familie, die sich im Ungarn der 1950er und 1960er Jahre mühsam durchschlägt, bleiben nur die kleinen Tricks, Schnaps und ein Aquarium.

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Krisztina Toth Autorin
Bekannt wurde Krisztina Tóth mit Lyrik und ErzählungenBild: Marjai Judit

Das große Aquarium mit seinem veralgten, trüben Wasser spielt eine zentrale Rolle im Leben der "Klari-Oma", die sich "überhaupt nicht wie eine normale Großmutter" benimmt. Sie trägt Lippenstift, kleidet sich mit "nervtötender Geschmacklosigkeit", lügt und klaut - und wenn sie erwischt wird, verteidigt sie sich mit ihrem Parteibuch. Wechselnde Männer tauchen in ihrer kleinen Souterrainwohnung auf; sie sind so schnell wieder vergessen wie die toten Guppys, die sie mit demselben Sieb aus dem Aquarium fischt, durch das sie auch den Tee aufgießt. Die Kraft, Dinge zu Ende zu denken, fehlt ihr schon ihr Leben lang.

Alltag statt Politik

Ein Kleine-Leute-Leben. Eine von mehreren Figuren mit ausgeprägt skurrilem Charakter, denen der erste Roman der 1967 in Budapest geborenen Krisztina Tóth über eine Zeitspanne von dreißig Jahren folgt. Er erzählt die Geschichte einer jüdischen Familie im Ungarn der 1950er bis in die 1970er Jahre - einer Zeit, in der die Folgen des Zweiten Weltkriegs noch spürbar sind, während schon der Sozialismus die Ordnung des Lebens übernimmt.

Straßenarbeiterinnen in Budapest 1968
Straßenarbeiterinnen in Budapest, 1968Bild: picture-alliance/akg-images/Paul Almasy

Die großen historischen Ereignisse spielen im Leben der Familie keine Rolle. Vom Ungarn der Rákosi-Ära, von der Niederschlagung des Volksaufstands 1956 und dem aufgeweichten "Gulasch-Kommunismus" des Kádár-Systems erfährt der Leser nur das, was im harten Alltag der Armen ankommt. Es bedeutet nicht viel, wenn ein Nachbar mit "Imperialistenschwein! Mörder!" beschimpft wird oder jemand plötzlich verschwindet, ohne dass man weiß, ober er eingesperrt wurde oder abgehauen ist.

Arm, aber eigenwillig

"Klari-Oma", diese liebevolle Anrede hat sich die bizarre alte Frau selbst verliehen. Eine "Klari-Mutter" war sie nie, dazu war sie zu labil. Ihre Tochter Vera wuchs erst in staatlicher Obhut im Heim, dann als Pflegekind einer jüdischen Familie in einer winzigen Wohnung auf, zusammen mit der geistig behinderten Edu, der Schwester ihrer Pflegemutter. Das Geld ist immer knapp; manchmal so knapp, dass Vera über Winter kurzerhand auf der Krankenstation des Hospitals, in dem die Mutter und ihre Schwester arbeiten, einquartiert werden muss. Als nicht mehr ausreichend zu essen da ist, ziehen Zwischenmieter in die Küche ein: Artistenbrüder, die nicht weniger als ihre Wirtsleute am Hungertuch nagen.

Keine Arbeiterromantik

Es ist ein hermetisches Leben, eine Welt ohne leuchtenden Hoffnungsstreif am Horizont. Krisztina Tóth, die in Ungarn zunächst als Lyrikerin bekannt wurde, beschreibt sie ohne Nostalgie. Die Segnungen der Revolution dringen nicht bis in die Wohnungen des Lumpenproletariats, in deren Enge, Mief und Gestank kein Platz für Romantik ist. Reich werden? Daran kann erst Veras grobschlächtiger Ehemann in den 70er Jahren denken. Für die Nachkriegsgeneration gilt: "Wer arm ist, der wird niemals reich."

Ungarn Arbeitersiedlung 1960
Ungarische Arbeitersiedlung, 1960Bild: picture-alliance/akg-images/Paul Almasy

Wie Fische in einem Aquarium sind die Figuren in ihrem Milieu gefangen. Keine ist wirklich gutherzig, jede auf ihre Weise beschädigt und mit dem Überlebenskampf beschäftigt. Gesellschaftliche Muster und Zuschreibungen können sie nicht durchbrechen.

Ohne Voyeurismus, mit kühlem Gefühl

Trotzdem ist der Roman nicht düster. Die Autorin beschreibt ihre befremdlichen, grotesken Protagonisten mit Liebe und oft auch voller Komik - nüchterner, manchmal trauriger Komik. Der Roman ist auf intelligente Weise untheoretisch und handlungsreich. Er lebt durch viele phantasievolle Details, die das Ungarn jener Jahre sehr authentisch wiederauferstehen lassen.

Buchcover Krisztina Toth Aquarium

Der renommierte, für seine kulturmittlerische Tätigkeit schon mit dem Verdienstorden der Republik Ungarn und dem österreichischen Staatspreis ausgezeichnete Übersetzer György Buda hat für seine Übertragung ein österreichisch gefärbtes Deutsch gewählt. Seine Sprache passt sich dem beschriebenen Soziotop bestens an.

Krisztina Tóth: "Aquarium" (Akvárium), aus dem Ungarischen übersetzt von György Buda, Nischen Verlag 2015. Der Roman wurde für die Shortlist des Internationalen Literaturpreises nominiert.

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