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Wenn Mädchen Ehefrauen sein müssen

Nastassja Shtrauchler22. Oktober 2015

Zwangsehen und Kinderbräute: Themen, die in Europa weit weg scheinen. Ein Fall aus den Niederlanden beweist das Gegenteil. Experten gehen davon aus, dass sie auch in Deutschland bald auf der Agenda stehen werden.

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Eine Frau mit Kopftuch, aufgenommen von hinten (Foto: dpa - Bildfunk)
Bild: picture-alliance/dpa

Auf dem Foto, mit dem die niederländische Polizei nach ihr sucht, trägt Fatema ein schickes Kopftuch mit Leoparden-Muster. Ernst und vielleicht auch ein bisschen trotzig blickt sie in die Kamera, genau wie viele andere Mädchen in ihrem Alter auch. Doch Fatema ist kein ganz normaler Teenager. Die 14-jährige ist verheiratet und hat vor vermutlich zwei Monaten ihr erstes Kind zur Welt gebracht. Seit dem 31. August sind die junge Syrerin und ihr zehn Jahre älterer Ehemann vom Radar der Behörden verschwunden. Die beiden waren im Sommer über Deutschland in die Niederlande gekommen und in einer Erstaufnahmeeinrichtung in Ter Apel untergekommen. Zu einem Termin im Krankenhaus war Fatema nicht erschienen. In den Niederlanden geht man davon aus, dass sie vielleicht bereits außer Landes gebracht wurde.

Der Fall der "Kindsbraut" mitten in Europa hat für Aufsehen gesorgt. Die niederländische Politikerin Attje Kuiken forderte als Reaktion in einem Tweet, solche Ehen zu unterbinden. Sie fände das inakzeptabel. Kinder müssten Kinder sein können. Bis Fatemas Fall publik wurde, war es ausländischen Staatsangehörigen in den Niederlanden möglich, selbst die Ehe mit einer 16-jährigen anerkennen zu lassen - wenn diese am Ort der Eheschließung oder im Herkunftsland der Ehepartner offiziell registriert worden war. Mittlerweile arbeitet das Parlament an einem neuen Gesetz, das das legale Heiratsalter auf 18 heraufsetzen soll. Im Dezember wird es voraussichtlich in Kraft treten. Der niederländische Minister für Immigration, Klaas Dijkhoff sagte in einem Interview mit der britischen Rundfunkanstalt BBC, man wolle solche Beziehungen in der Zukunft nicht mehr anerkennen. "Solltest du ein Mann mit einer minderjährigen Ehefrau sein, wirst du es nicht mehr schaffen, sie noch rechtzeitig hierher nachzuholen."

Niederlande Fatema Alkasem Vermisster Flüchtlinge (Foto: Polizei Niederlande)
Fahndungsfoto von Fatema AlkasemBild: Polizei Niederlande

Ohne Familie und Ehemann schutzlos

Auch wenn es bisher keine Zahlen dazu gibt, macht man sich auch in Deutschland Gedanken darüber, ob mit den Flüchtlingen das Thema "Kinderbräute" auch zu uns kommen könnte. Laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) seien noch keine Fälle bekannt, doch Frauenrechtsorganisationen wie "Terre des Femmes" gehen davon aus, dass es sie in Zukunft vermehrt geben wird. Vor allem über den sogenannten Familiennachzug würden minderjährige Ehefrauen in die Bundesrepublik kommen, sagt Christa Stolle, Bundesgeschäftsführerin von "Terre des Femmes".

Stolle war vor kurzem in der Türkei und konnte sich vor Ort ein Bild von der Situation machen. Sie erzählt, dass einige Mädchen, 15 und 16 Jahre alt, in den Flüchtlingslagern darauf warteten von ihren Ehemännern nach Deutschland nachgeholt zu werden. Manche hätten bereits ein bis zwei Kinder und seien ohne Mann und Familie schutzlos. So spricht sie sich in der aktuellen Situation dafür aus, die Mädchen nachziehen zu lassen. "In Deutschland haben wir dann die Aufgabe, ihnen eine besondere Betreuung zukommen zu lassen", fügt Stolle hinzu. Beispielsweise die Vermittlung in Sprachkurse und die Aufklärung darüber, dass sie nicht in diesen Ehen bleiben müssten.

Christa Stolle Bundesgeschäftsführerin Terre des Femmes (Foto: Uwe Steinert)
Stolle: "Frühverheiratung enorm angestiegen"Bild: Uwe Steinert

Claudia Söder von der Frauen- und Hilfsorganisation "Medica Mondiale" sieht das ähnlich, gibt aber zu Bedenken, dass man nicht die Abhängigkeit der jungen Frauen von ihren Männern und den Schwiegereltern vergessen dürfe. "Wir können nicht ohne weiteres erwarten, dass sie den Ehemann schnell verlassen", so Söder. Dafür brauche man Beratung und einen Vertrauensaufbau. "Dafür sind wir in Deutschland aber noch nicht eingerichtet." Um die jungen Frauen nicht in Gefahr zu bringen, versuchen die Aktivistinnen immer die Familien mit einzubinden und den Ehemännern zu erklären, welche Vorteile es bringt, wenn nicht nur sie allein für den Familienunterhalt sorgen müssen. Christa Stolle von "Terre des Femmes" will vor allem Rahmenbedingungen schaffen, in denen sich die Mädchen entfalten können.

Ehe als Schutz vor sexueller Gewalt

Ein wiederkehrendes Thema ist dabei die sogenannte Familienehre. Viele Mädchen und Frauen gelten in ihren Familien als Garantinnen dafür und müssen stets darauf achten, diese zu wahren. Dazu gehört unter anderem die Jungfräulichkeit, die eine Frau mit in die Ehe bringen sollte. Gerade in Kriegsgebieten wie Syrien aber kommt es immer wieder zu sexuellen Übergriffen und Vergewaltigungen. Claudia Söder von "Medica Mondiale" erzählt, dass jeder solche Taten schon erlebt habe. Für die Familien stelle eine Vergewaltigung aber eine sehr große Schande dar, weil die Ehre der Tochter dadurch beschmutzt wurde. Eine Heirat biete da eine Lösung an. "Man erhofft sich, dass sie sexuellen Übergriffen dann nicht mehr ausgesetzt ist", so Söder, und nehme es hin, dass die Mädchen eigentlich rechtlich noch viel zu jung seien. Oftmals spiele das aber auch gar keine Rolle. "Die Menschen kümmern sich nicht darum und der Staat verfolgt das nicht", sagt Christa Stolle von "Terre des Femmes". In extremen Situationen spielten auch ökonomische Gründe eine große Rolle. So wären viele Familien auf das Brautgeld, das sie für jede Tochter bekommen, angewiesen. So habe sich die Zahl der "Frühehen", wie Christa Stolle sie bezeichnet, in den syrischen Flüchtlingslagern in den vergangenen drei Jahren verdreifacht.

Die "Imam-Ehe"

Das Thema ist ein Aufreger und erscheint den meisten weit weg, doch auch in Deutschland hat es solche Fälle gegeben. Christa Stolle erzählt von einer 16-jährigen, deren türkisch-stämmige Eltern sie verheiraten wollten. Offiziell ist das in Deutschland auch mit einer speziellen gerichtlichen Genehmigung möglich, doch die Eltern hatten ohnehin eine religiöse Hochzeit geplant, also eine sogenannte Imam-Ehe. Nachdem die Eltern sie aus der Schule genommen und sie zu Hause eingesperrt hatten, wandte sich das Mädchen an die Frauenschutzorganisation. Das war vor 5 Jahren. Inzwischen lebt die 21-jährige an einem anonymen Ort unter einem anderen Namen und habe einen Job, so Stolle. "Sie ist jetzt eine selbstbewusste, junge Frau und uns sehr dankbar."