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"Was weit weg geschieht, geht uns nah"

Dokumentiert von der Deutschen Presse-Agentur31. Dezember 2004

Bundeskanzler Gerhard Schröder hat in seiner Neujahrsansprache zur Solidarität mit den von der Flutkatastrophe betroffenen Menschen in Südostasien aufgerufen. Innenpolitische Themen hat er so gut wie ausgespart.

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Bundeskanzler Schröder bei seiner NeujahrsanspracheBild: AP


"Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

die Bilder unfassbaren Grauens, die wir täglich sehen, sagen uns: Was weit weg geschieht, geht uns nah. Opfer sind Menschen eines anderen Erdteils - und Opfer sind auch Deutsche, unsere Landesleute. Im gemeinsamen Leid spüren wir die Unteilbarkeit unserer einen Welt. Diese Welt ist heimgesucht worden von der schlimmsten Naturkatastrophe seit Menschengedenken. Zehntausende sind tot, Millionen sind obdachlos und haben ihre Lebensgrundlagen vollständig verloren.

Unsere gemeinsame Antwort muss die der einen Welt sein. Politische Lager sind jetzt nicht wichtig, religiöse und ideologische Unterschiede auch nicht. Es geht um Solidarität aus gemeinsamer Verantwortung. Für die Betroffenen, die Hilfe brauchen, für die Kinder, die behütet werden müssen. Es geht um die Linderung von Leid jetzt. Es geht aber auch um die Zukunft der Region. Globalisierung betrifft uns alle. Das ist eine Lehre, die wir nicht vergessen dürfen.

Auch deutsche Urlauber, das ist zur traurigen Gewissheit geworden, sind unter den Toten. Mehr als 1000 deutsche Staatsangehörige werden noch vermisst. Angesichts der furchtbaren Zerstörung müssen wir befürchten, dass mehrere hundert Deutsche unter den Toten sein werden.

Was tun wir jetzt und was ist in Zukunft zu tun? Natürlich bewegt es Sie wie auch mich besonders, wie wir schnellstmöglich das Schicksal deutscher Urlauber aufklären und Überlebende nach Hause bringen können.

Spezialflugzeuge der Bundeswehr - so genannte 'fliegende Lazarette' - sind im Einsatz, um Verletzte zu transportieren. Wir machen dabei keinen Unterschied nach Nationalitäten - nur die Schwere der Verletzung zählt. Weitere Flugzeuge der Bundeswehr und auch Chartermaschinen stehen für den Rücktransport deutscher Touristen bereit. Und die deutschen Reiseveranstalter werden ihrer Verantwortung für ihre Kunden in vorbildlicher Weise gerecht. In einer solchen Situation muss sich internationale Solidarität beweisen. Wir dürfen die von der Flutwelle am stärksten betroffenen Länder, die Menschen dort, nicht allein lassen. Nicht jetzt, aber auch nicht in Zukunft.

Die Bundesregierung hat für die humanitäre Soforthilfe 20 Millionen Euro bereitgestellt. Daraus werden auch die Maßnahmen unserer großen Hilfsorganisationen finanziert. Und zwar für alle Betroffenen - gleichgültig aus welchen Ländern sie kommen.

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aller Hilfsorganisation - auch aus Deutschland - leisten unter schwersten Bedingungen wichtige und lebensrettende Arbeit. Sie werden verändert nach Hause kommen. Ihnen allen gilt unser Dank und unsere Bewunderung. (...)

Angesichts der gewaltigen Schäden in der Region müssen wir den betroffenen Ländern aber auch beim Wiederaufbau helfen. Dort haben die Menschen nicht nur ihren persönlichen Besitz verloren, auch die wirtschaftlichen Grundlagen dieser Länder sind schwer beeinträchtigt. Sie brauchen deswegen unsere deutsche wie auch internationale Hilfe beim Wiederaufbau der Infrastruktur, beim Bau von Wohnungen, Straßen und Schulen.

Deutschland wird sich in der Europäischen Union, in den Vereinten Nationen, aber auch in der Weltbank mit Nachdruck dafür einsetzen, dass den Ländern wirksam und unbürokratisch geholfen wird. Dazu gehört für mich auch, die Entschuldung dieser Länder fortzusetzen. Bilateral und multilateral. (...)

Schließlich müssen wir die internationalen Bemühungen verstärken, bestehende Frühwarnsysteme bei Seebeben und Flutwellen so auszubauen, dass eine weltweit wirksame Vorbeugung und Frühwarnung erreicht wird. Dafür wird sich Deutschland in den Vereinten Nationen und bei den wichtigsten Industrieländern verwenden. (...)

Ich habe von der Dimension des Leidens gesprochen, der wir gerecht werden müssen und zwar jeder an seinem Platz. Die Staaten, die Regionen, die Wirtschaft und die ganze Weltgesellschaft. Ich möchte nachhaltige Hilfe für die Region. Ich will, dass wir uns lange verantwortlich fühlen. Alle wohlhabenden Länder sollten Partnerschaften für den Wiederaufbau bestimmter Regionen übernehmen.

Ich stelle mir vor, dass sich die großen Industrieländer für jeweils ein Land verantwortlich fühlen. Auch Deutschland. Unsere Bundesländer für entsprechende Bezirke. Unsere Städte für Städte und unsere Dörfer für Dörfer. Unsere Wirtschaft könnte helfen. Hilfe würde so sichtbar und ganz konkret. Deutsche Schulen und ihre Kinder könnten Patenschaften für Schulden dort übernehmen. Unterstützt von ihren Eltern. Das würde zeigen, dass wir über das Spenden von Geld - das gewiss wichtig ist - weit hinaus wollen. Dass wir Verantwortung als etwas Dauerhaftes begreifen.

Die Bundesregierung wird den Freunden in der Europäischen Union eine solche Strategie nachhaltiger Partnerschaft vorschlagen. Jedes Land unseres reichen Kontinents könnte so Verantwortung zeigen, Menschlichkeit konkret beweisen. (...)

Der heutige Silvesterabend eignet sich nicht, um über Details der deutschen Innenpolitik zu sprechen. Nur so viel: Wir haben im vergangenen Jahr wichtige Reformen für die Zukunft unseres Landes durchgesetzt. Mit diesen Reformen werden wir Deutschland in der Erfolgsspur halten. Unser Reformkurs wird auch im neuen Jahr entschieden fortgesetzt. Weil er uns stark macht, um den Herausforderungen im Inneren zu begegnen. Und weil er uns stark macht, um unserer größer gewordenen Verantwortung in der Welt gerecht zu werden.

Gerade bei diesem Jahreswechsel ist wieder einmal zu spüren, dass wir Deutschen die Kraft zur Solidarität nach Innen und nach Außen haben. Wir können mit Zuversicht und Hoffnung ins Neue Jahr gehen. Und dankbar dafür sein, dass wir in einer der friedlichsten und stabilsten Regionen der Erde leben dürfen. Ich wünsche Ihnen und Ihren Familien für 2005 Glück, Erfolg und vor allem Gesundheit."