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"Was nützt eine Theorie, die nicht prüfbar ist?"

14. August 2005

In der Quantenphysik ist alles relativ: Brauchen wir ein neues Weltbild? Professor Gert-Ludwig Ingold erklärt, warum bei der Suche nach der "Weltformel" Beobachten, Messen und Beschreiben durch nichts zu ersetzen sind.

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Die Sonne - eine PhotonenquelleBild: NASA


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: Hat die unbeobachtete Welt Eigenschaften? Oder erhält sie erst welche, wenn man sie beschreibt – ist womöglich "der Mensch das Maß aller Dinge"?

Gert-Ludwig Ingold: Nein, ich glaube nicht, dass der Mensch das Maß aller Dinge ist. Die Natur existiert auch ohne uns und die Vorgänge in der Natur laufen auch ab, ohne dass wir hinsehen. Die Welt hat eine gewisse Dynamik, und diese Dynamik wird durch alle Prozesse, die in der Welt ablaufen, beeinflusst.

In der klassischen Physik kann ich aus dem Fenster gucken und ein Phänomen beschreiben, das ich da draußen sehe, ohne dass sich daran irgendetwas ändert. In der Quantenmechanik ist es jedoch möglich, dass ich mit einer Messung das System beeinflussen kann.

Liegt unserem Weltenlauf eine Erwartungshaltung zugrunde oder gibt es im Zeitalter der Quantenmechanik nur noch Chaos und keine Notwendigkeit mehr?

Doch, in der klassischen Welt gibt es einen ganz massiven Anteil von Prozessen und Systemen, die deterministisch und deshalb über gewisse Zeiträume vorhersagbar sind. Sonst könnten wir in der Welt wahrscheinlich gar nicht vernünftig leben. Die Planetenbewegung gehört zum Beispiel zu den Phänomenen, die man sehr vorausberechnen kann.

Daneben gibt es aber andere Systeme – zum Beispiel ökonomische Prozesse wie die Börse -, die man relativ schlecht vorhersagen kann. Aber selbst mit der Quantenmechanik löst sich nicht alles in Unbestimmtheit auf. Auch hier können wir Wahrscheinlichkeitsaussagen machen. Wenn das nicht der Fall wäre, dann wäre es überhaupt nicht mehr möglich, physikalische Theorien zu überprüfen und bei einem Experiment eine Vorhersage über den Ausgang zu treffen.

Kann man diese Vorhersagen nur machen, weil wir uns überlegt haben, wie sie sein werden, oder weil es Mechanismen gibt, die wie ein Naturgesetz immer gleich ablaufen?

Die Naturgesetze lernen wir zunächst als Erfahrungstatsachen kennen, die wir entweder mit Hilfe umgangssprachlicher Begriffe oder mit Hilfe der Mathematik beschreiben. Sobald wir eine adäquate theoretische Beschreibung gefunden haben, können wir auf dieser Basis Vorhersagen zu machen.

Aber selbst dann, wenn wir in der Welt chaotische Elemente beobachten, bricht für den Physiker die Welt noch nicht zusammen. Sondern dann geht es darum, möglichst viele gültige Aussagen zur Beschreibung dieses chaotischen Systems zu finden - so wie in der Quantenmechanik, wo man nicht genau den Ausgang eines Experimentes vorhersagen kann, aber mit einer gewissen Wahrscheinlichkeits-Annahme arbeitet.

Reicht das aus, um gültige Aussagen zu machen?

Seit rund 400 Jahren betreiben wir die Physik auch auf mathematischem Niveau. Wenn man sich die Erfolge, die seit Galilei erreicht wurden, vor Augen hält, dann zeigt das deutlich, dass man die Natur verstehen und gültige Aussagen machen kann. Daran ändert auch die Quantenmechanik nichts.

Das wirklich Erstaunliche ist, dass das auch im mikroskopisch kleinen Bereich funktioniert. Dass wir, wenn wir von der klassischen in die quantenmechanische Welt gehen, die Natur immer noch verstehen, ist schon verblüffend. Das zeigt aber auch, dass auch diese Welten verlässlich sind und etwas "dahinter ist".

Hat die Quantenphysik Auswirkungen auf unser Verständnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft?

Mit der Zukunft ist das so eine Sache: Man hat heutzutage nicht mehr den Determinismus, an den man noch im 18. Jahrhundert geglaubt hat. Damals hat man gedacht, dass man - wenn man den aktuellen Zustand des Universums en detail kennt - genau vorherbestimmen kann, wie sich die Welt weiterentwickeln wird. Zwei Argumente sprechen dagegen: Das eine ist der In-Determinismus, also die Unbestimmtheit, die die Quantenmechanik zulässt. Der andere Aspekt ist der, dass sich chaotische Systeme nur für sehr begrenzte Zeiträume vorhersagen lassen. Das kennt man vom Wetter.

Es gibt Dinge und Variablen in der Welt, die offenbaren sich nicht jedem. Aber wer die "Weltformel" sucht, muss sie kennen. Lesen Sie weiter auf Seite 2.

Was sind denn die wichtigsten Errungenschaften, die die Quantenmechanik beizutragen hat in Bezug auf philosophische Fragen des Weltverständnisses?

Eine der philosophischen Konsequenzen der Quantenmechanik ist, dass das Ergebnis eines Experimentes nicht vollständig determiniert sein muss – und zwar nicht deswegen, weil wir die Natur noch nicht vollständig beschrieben hätten, sondern weil diese Unbestimmtheit tatsächlich vorhanden ist.

Es gab Versuche, die Quantenmechanik zu verbessern und ihr mehr Vorbestimmtheit zu verschaffen. Man nahm an, dass irgendwo – meinetwegen können Sie es "Gott" nennen, müssen Sie aber nicht – noch irgendjemand irgendwie über uns die Kontrolle hat, worauf wir aber keinen Einfluss haben. Daraus entstanden sind die so genannten "Theorien mit versteckten Variablen" – also Größen, auf die wir keinen direkten Zugriff haben.

Nun ist es aber so, dass man die Existenz der Variablen experimentell überprüfen kann. Der ultimative Beweis ist zwar noch nicht geschafft, aber inzwischen bezweifelt kaum jemand mehr, dass es solche versteckten Variablen nicht gibt. Das heißt, die Unbestimmtheit in der Quantenmechanik, die wir im Experiment beobachten, ist echt.

Und die versteckten Variablen beziehen sich zum Beispiel auf die Zufälligkeiten, aus denen unser Universum entstanden ist?

Ob es überhaupt einen Anlass gab für den Urknall, ist derzeit reine Spekulation, denn die Verifizierung durch Beobachtung steht noch vollkommen in den Sternen. Wir haben es hier mit Abläufen zu tun haben, die vergangen sind und noch dazu einmalig waren. Der Urknall ist nicht reproduzierbar – wir fordern aber von unseren Experimenten, dass sie wiederholbar sind. Auch die kosmische Hintergrundstrahlung lässt uns nicht unmittelbar bis zum Urknall zurückblicken.

Es gibt aber Vermutungen, dass man durch Beobachtung von so genannten "Gravitationswellen" etwas über die Zeit vor dem Urknall erfahren könnte. Allerdings gibt es dazu noch keine Experimente. Auch die vielen, angeblich auf kleinsten Längenskalen eingerollten Dimensionen lassen sich noch nicht untersuchen. Aber man soll die Hoffnung nicht aufgeben: Vielleicht findet ja irgendwann irgendjemand eine indirekte Beobachtungsmöglichkeit?

Mathematisch geht das - man kann wunderbar im vieldimensionalen Raum rechnen. Sollte es nicht funktionieren, dann schaffen sich die Mathematiker ohnehin einfach ein neues Modell …

Die große Frage ist, ob diese Modelle eine physikalische Relevanz haben – das wird durchaus sehr heftig debattiert. Wird man jemals eine Chance haben, diese Modelle experimentell zu prüfen? Sollte das nicht der Fall sein, dann ist und bleibt es Mathematik, die aber physikalisch nicht relevant ist, weil sie nichts mit Naturbeschreibung zu tun hat.

Aber vielleicht kommen wir irgendwann in einen Bereich, der zwar experimentell überhaupt nicht zugänglich ist, aber der von der Natur so eingerichtet wurde, dass es nur eine einzige gültige Theorie gibt. Im Moment gibt es keine Anzeichen dafür, aber sicher kann man sich da nicht sein. Wenn es diese eine mathematische Konstruktion gäbe und sie ohne Schwierigkeiten funktionieren würde, dann könnte man sagen: Wir haben eine allgemein gültige Beschreibung gefunden.

… und damit die "Weltformel".

Das wäre die Hoffnung - aber man muss dem kritisch gegenüberstehen. Das Wesentliche an der Physik sind Beobachtung und Vorhersage. Was hätten wir von einer Theorie, die von sich behauptet, sie sei die einzig mögliche, wenn sie nicht überprüfbar ist?!

Das Gespräch führte Ingun Arnold

Professor Dr.Gert-Ludwig Ingold
Dr.Gert-Ludwig Ingold, Professor für Theoretische Physik an der Universität AugsburgBild: Uni Augsburg

Professor Dr.Gert-Ludwig Ingold ist Professor für Theoretische Physik an der Universität Augsburg und Autor des Buches "Quantentheorie: Grundlagen der modernen Physik". Das Buch erklärt die wichtigsten Theorien der Quantenphysik und ihre Konsequenzen für unser Naturverständnis.