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"Mail aus London"

27. März 2009

Die britische Polizei bereitet sich auf Proteste von Globalisierungsgegnern im Vorfeld des G20-Gipfels vor. Dabei wird in Großbritannien sonst wenig protestiert. Ruth Rach fragt sich in ihrer "Mail aus London", warum.

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Blick auf das britische Parlament in London über die Themse (Foto: AP)
Öffentliche Proteste in Großbritannien sind seltenBild: AP

Warum gibt es in Großbritannnien nicht mehr öffentliche Proteste? Diese Frage beschäftigt mich schon seit Jahren. Allein die öffentlichen Verkehrsmittel in London wären Grund für einen Aufstand. Man steht extra früh auf, bezahlt ein Vermögen für ein Ticket - nur um ewig auf dem Bahnsteig herumzustehen und mit dem klassischen Spruch "Signalfehler auf der Northern Line" beglückt zu werden.

Blick in einen U-Bahn-Hof in London (Foto: dpa)
Ein Grund für Proteste wäre die Londoner U-BahnBild: dpa

Die nächsten drei U-Bahnen sind so überfüllt, dass nicht einmal eine Maus hineinpassen würde und in die vierte Bahn wird man schließlich automatisch von den nachdrängenden Massen hineingequetscht. Das Ergebnis: Aggression, Platzangst, Atemnot. Man ist schlichtweg zu schwach und viel zu spät dran, um zu protestieren.

Ein geographisches Lotteriespiel

Mindestens genauso frustrierend ist der nationale britische Gesundheitsdienst (NHS). Nicht umsonst wird er mit einem geographischen Lotteriespiel verglichen. Der glückliche Gewinner erkrankt in der richtigen Region am richtigen Leiden und wird prompt behandelt. Die Verlierer werden auf Wartelisten verbannt - sofern das Computersystem mitmacht und dringende Termine nicht wie in meinem Fall spurlos verschluckt.

Auch hier wäre das Potential für Protest ausgesprochen groß. Doch diejenigen, die am meisten Grund dafür hätten, sind wahrscheinlich todkrank oder bereits gestorben.

Hat die Jugend aufgegeben?

Demonstranten gehen auf der Straße (Foto: AP)
Zwar haben die Jugendlichen gegen den Irakkrieg demonstriert, doch es war erfolglos (Archivfoto: 2004)Bild: AP

Doch wie ist es mit der Jugend? Zumindest die müsste doch gut im Saft stehen. Tatsächlich gibt es vereinzelt Aktionen gegen eine geplante Flughafenerweiterung oder gegen den Bau einer Schnellstraße.

Bislang haben sie allerdings nichts gebracht und das führt zu Resignation. "Die Politiker hören ohnehin nicht auf uns", bekomme ich immer wieder zu hören. Als Paradebeispiel werden die massive Demonstrationen gegen den Irakkrieg genannt: Sie stießen bei der britischen Regierung auf taube Ohren.

Selbstzerstörung statt Protest

Vor ein paar Jahren hätte ich das Fehlen einer Protestbewegung in Großbritannien mit der schlichten Formel "In Großbritannien gab es noch nie eine Revolution" erklärt. Und vielleicht auch mit einem vagen Hinweis auf die individualistische Tradition der Briten, ihre Flucht ins Exzentrische, oder auf das Klischee der 'Stiff Upper Lip': Selbstkontrolle um jeden Preis.

Ein Bobby steht vor Big Ben (Foto: dpa)
Es gibt nicht viele öffentliche Proteste, bei denen Polizisten einschreiten müssten (Archivfoto: 1997)Bild: picture-alliance/dpa

Allmählich vermute ich allerdings, dass sich die Aggression vermehrt nach innen richtet und durch Akte von Selbstzerstörung äußert. Erst diese Woche erklärte eine Psychologin, die Zahl der Selbstverletzungen unter Jugendlichen habe epidemische Ausmaße angenommen. Auch der übermäßige Konsum von Alkohol und Drogen fordere immer mehr Opfer.

Besonders tragisch finde ich, was in sozialen Brennpunkten abläuft: Dort bringen sich blutjunge Mitglieder rivalisierender Gangs lieber gegenseitig um, anstatt sich gegen das privilegierte Establishment zu verbrüdern. Und daran wird sich, so fürchte ich, auch in den nächsten Jahren wenig ändern.

Autorin: Ruth Rach

Redaktion: Julia Kuckelkorn