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"Warum mussten so viele sterben"

Nina Bednarz, Wolgograd2. Februar 2003

In diesen Tagen jährt sich das Ende der Schlacht von Stalingrad zum sechzigsten Mal. DW-Reporterin Nina Bednarz besuchte im heutigen Wolgograd eine Stalingrad-Veteranin.

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In Wolgograd immer präsent: Erinnerung an die Schlacht von StalingradBild: AP

Früher, sagt Alexandra Trafimowa, ist es ihr viel leichter Gefallen, über die Schlacht von Stalingrad zu sprechen. Heute muss sie sich manche Träne aus dem Gesicht wischen, wenn sie von damals berichtet. Im Alter ist man wohl zarter besaitet, meint Frau Trafimowa. Als die Wehrmacht im Sommer 1942 in Stalingrad einfiel, war Alexandra Trafimowa neunzehn Jahre alt. Der deutsche Angriff kam für die junge Frau völlig überraschend. Und auch die sowjetische Führung war nicht vorbereitet auf Hitlers Offensive, sagt sie: "Unsere Regierung hat offenbar nicht damit gerechnet, dass die Wehrmacht Stalingrad angreift. Wir haben erwartet, sie marschiert Richtung Moskau. Uns jungen Leuten war aber klar: Wir geben Stalingrad nicht auf. Und wir waren überzeugt: Wir werden den Krieg gewinnen. Das wurde uns nicht etwa von oben verordnet. Wir haben einfach ganz fest an uns geglaubt."

Das Schlimmste an der Schlacht um Stalingrad? Frau Trafimowa antwortet prompt. Die permanenten Bombardierungen durch die deutschen Kampf-Flugzeuge. Und der Häuserkampf. Um jedes Haus, jeden Keller, jede Fabrikhalle und schließlich um jeden Trümmerhaufen wurde erbittert gekämpft. Das war bestialisch, sagt die heute 80-Jährige.

Das war die Hölle

Alexandra Trafimowa diente in der Roten Armee als Sanitäterin. Einmal versorgte sie einen Verletzten im zweiten Stock. In der ersten Etage kämpfte die Wehrmacht. Sie verließ zusammen mit dem Verwundeten das Haus. Die deutschen Soldaten ließen sie passieren. Warum, weiß sie nicht. Vielleicht hatte ich einfach Glück. Als sie schließlich von der Kapitulation der Deutschen erfährt, hat sie nur ein Gefühl: "Freude, natürlich Freude! Wir waren doch von allem abgeschnitten. Das war Freiheit, verstehen Sie? Wir gingen durch die Straßen und dachten: Mein Gott, niemand schießt. Wie kann denn das sein? Das war kein Krieg, das war die Hölle. Die echte Hölle."

Die Freude über den Sieg weicht schnell der Trauer. Die Stadt ist übersät mit Toten und Leichenteilen. Kein Stein steht mehr auf dem anderen. Die Überlebenden schlafen in Erdlöchern. In den Kämpfen, sagt Alexandra Trafimowa, war klar: Die Deutschen sind unsere Feinde. Doch nach der Schlacht hatte sie Mitleid mit den deutschen Soldaten. "Das war ein sehr kalter Winter. Bis minus 40 Grad. Unsere Soldaten hatten Filzstiefel und Pelzjacken. Aber die Deutschen waren praktisch nackt. Als die in Gefangenschaft gingen, hatten sie Lappen an den Füßen und waren in Bettlaken gehüllt. Sie taten mir so leid. Sie haben so gefroren. Das sind doch auch Menschen - so wie wir."

Kein Hass mehr

Die Rentnerin unterscheidet zwischen den einfachen Soldaten und den Truppen der SS. Die hätten teuflisch gewütet hinter der Front und besonders viel Blut an den Fingern. Jetzt, 60 Jahre nach der Stalingrad-Schlacht freut sich Frau Trafimowa über das große Interesse der Deutschen an dem Thema. Hass auf die Deutschen heute? Nein, sagt die Veteranin: "Der ist weg. Beim Menschen heilen alle Wunden. Heute, da gibt es keinen Hass mehr. Wir haben die Deutschen doch nie gerufen. Sie sind von selbst gekommen. Und das war das Kränkende."

Für ihre Verdienste im "Großen Vaterländischen Krieg", wie die Russen den Zweiten Weltkrieg nennen, ist Frau Trafimowa hoch dekoriert mit zahlreichen Orden. Zum 60. Jahrestag der Stalingrad-Schlacht bekommt sie eine kleine finanzielle Zuwendung vom Staat und wird als "Heldin des Krieges" gefeiert.

Trauertag statt Feiertag

Doch eigentlich ist der Feiertag für Alexandra Trafimowa ein Trauertag. Warum nur - so fragt sie - mussten so viele Menschen sterben in Stalingrad?