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Wann darf ein Kapitän von Bord?

18. Januar 2012

"Der Kapitän verlässt als Letzter das Schiff." Ist dieser Satz eine gesetzliche Regel oder nur Seemanns-Mythos? Diese Frage stellt sich nach dem Schiffsunglück vor Italien.

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Die 'Oceanos' zwei Tage vor ihrem Untergang 1991 (Foto: AP)
Die "Oceanos" zwei Tage vor ihrem UntergangBild: AP

Am 3. August 1991 gibt es eine Explosion im Maschinenraum des griechischen Kreuzfahrtschiffs "Oceanos". Das Schiff mit hunderten von Menschen an Bord schlägt vor der südafrikanischen Küste leck, bekommt immer mehr Schlagseite und beginnt langsam zu sinken. Jetzt ist die Crew gefragt, sie müsste sich um die Rettung kümmern. Die meisten Besatzungsmitglieder verlassen das Schiff aber bereits in den Rettungsbooten, etwa 200 Passagiere bleiben zurück. Hubschrauber kommen zur Hilfe. Einer der Ersten, der sich hochziehen lässt, ist Kapitän Yiannis Avaranas. Dutzende Männer, Frauen und Kinder an Bord bangen weiter um ihr Leben. Später soll Avaranas gesagt haben: "Wenn ich Befehl gebe, das Schiff zu verlassen, dann ist es egal, wann ich gehe. Der Befehl gilt für alle. Wenn einige Leute bleiben wollen, dann können sie auch bleiben."

"Auf jedem Schiff, das dampft und segelt..."

Damit hat Yiannis Avaranas gegen ein uraltes Gesetz der Seefahrt verstoßen: Der Kapitän geht in einem Notfall immer als Letzter von Bord. Aber ist das wirklich ein Gesetz, oder doch nur ein Mythos? Uwe Jenisch sagt, dass es keinen Paragrafen gebe, in dem das ausdrücklich so steht. Der Professor und Fachmann für internationales Seerecht an der Universität Kiel ergänzt allerdings, dass man diese Regel aus anderen Vorschriften ableiten könne:

Dr. Uwe Jenisch, Seerechts-Experte der Universität Kiel (Foto: Uni Kiel)
Dr. Uwe Jenisch, Seerechts-Experte der Universität KielBild: Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

"Auf jedem Schiff, das dampft und segelt, ist einer, der die Sache regelt. Es ist eine hierarchische Ordnung vorgeschrieben auf allen Schiffen. Der Kapitän steht alleinverantwortlich an der Spitze. Er hat die Befehlsgewalt. Er muss die Evakuierung leiten, und solange das Schiff existiert, ist er verantwortlich." Außerdem sei es gute Seemannsschaft, dass der Kapitän wie ein Familienvater sein Schiff führe. So sei es historisch gewachsen. "Man kann da fast von Gewohnheitsrecht sprechen. Allerdings ist das nirgends aufgeschrieben."

Die Weltschifffahrtsorganisation "International Maritime Organisation" (IMO) in London regelt die Sicherheit der Schifffahrt weltweit. Die Qualitätskontrolle dieser Vorschriften liege allerdings bei den Staaten, sagt Jenisch. Im Falle der jetzt havarierten "Costa Concordia" müsse also die italienische Administration aktiv werden und sich dabei an die internationalen Vorgaben halten.

Lieber vom Hubschrauber aus dirigieren?

Auch der Vizepräsident des Verbandes deutscher Kapitäne und Schiffsoffiziere, Willi Wittig, meint, der Kapitän trage die ultimative Verantwortung für sein Schiff. Im Deutschlandfunk sagte Wittig allerdings, dass diese Verantwortung nicht zwangsläufig von der Brücke aus ausgeführt werden müsse. "Es mag Situationen geben, wo, vielleicht um sich eine Übersicht zu verschaffen, es tatsächlich angebracht ist, das von außerhalb des Schiffes zu tun." Allerdings seien die Ressourcen, dies zu tun, natürlich alle auf dem Schiff. Dass der Kapitän sein Schiff vorzeitig verlasse, sei also rechtlich nicht antastbar, aber doch höchst ungewöhnlich.

Das Kreuzfahrtschiff 'Oceanos' in Seenot am 4. August 1991 (Foto: AP)
Die "Oceanos" in Seenot am 4. August 1991Bild: AP

Immer wieder weisen Fachleute also auf den Ehrenkodex der Seeleute hin. Dass ein Kapitän sein Schiff zuletzt verlässt, ist gesetzlich nicht direkt verankert und auch nicht einklagbar. Von wo er seine Fürsorgepflicht für Passagiere, Mannschaft und Schiff ausübt, muss er im Ernstfall selbst entscheiden. So hat auch Yiannis Avaranas argumentiert, der Kapitän der vor Südafrika havarierten "Oceanos". Der Kapitän, der sich per Hubschrauber frühzeitig vom Schiff entfernte, erklärte, so habe er die Rettungsaktion besser dirigieren können. Er wurde schließlich von einem Londoner Gericht freigesprochen und arbeitete später weiter als Kreuzfahrtschiff-Kapitän.

Ausharren für die Versicherung

Die Versicherungswirtschaft wäre allerdings nicht froh über einen frühzeitigen Abgang des Kapitäns. Denn ein Schiff, das in Seenot von der Mannschaft verlassen wurde, gehört demjenigen, der es birgt. Um diesen Fakt hat sich einiges an Seemannsgarn gesponnen. So harrte der Kapitän des US-Frachters "Flying Enterprise", der Däne Hendrik Kurt Carlsen, 1951 als letzter Mann an Bord tagelang auf seinem sinkenden Schiff im Ärmelkanal aus. Angeblich aus versicherungstechnischen Gründen. Er habe die "Flying Enterprise" als Eigentum der Reederei sichern wollen, hieß es noch Jahrzehnte später in Medienberichten.

"Das System Kreuzfahrtschiff ist außer Rand und Band"

Ein riesiger Fels hängt im Rumpf der 'Costa Concordia' (Foto:AP)
Ein riesiger Fels hängt im Rumpf der "Costa Concordia"Bild: dapd

Ob ein Kapitän bei der mittlerweile erreichten Größe von Kreuzfahrtschiffen eine Evakuierung überhaupt leiten könne, bezweifeln allerdings mehrere Experten. Willi Wittig vom Kapitänsverband sagte der Nachrichtenagentur AFP, Havarien seien so komplex, dass die Maßnahmen nicht von einer Person gesteuert werden könnten. Und auch Jens Peter Hoffmann, Sicherheitsexperte für Schiffe, hält eine reibungslose Evakuierung unter bestimmten Umständen nicht mehr für möglich. Der Tagesschau sagte er im Zusammenhang mit der havarierten Costa Concordia: "Wenn ein Schiff plötzlich 30 bis 40 Grad Neigung hat, dann funktioniert das alles nicht mehr." Außerdem gebe es oft hunderte Personal-Kräfte an Bord, aber nur etwa 30 bis 40 seien Seeleute, und nur die seien im Ernstfall auch gut ausgebildet.

Professor Uwe Jenisch von der Universität Kiel meint, das System Kreuzfahrtschiff sei außer Rand und Band geraten. Die Schiffe seien mittlerweile zu groß. "Eine schlagartige Evakuierung von 4000 bis 5000 Menschen zu organisieren ist eine Herkulesaufgabe." Umlaufende Promenadendecks wie früher gebe es kaum noch. Kabinen hätten mittlerweile häufig einen eigenen Balkon. Das erschwere den Zugang zu den Rettungsbooten. Zudem gebe es zahlreiche Stockwerke.

Seit der Titanic nichts gelernt?

Die Titanic-Überlebende Molly Brown dankt dem Kapitän eines herbeigeeilten Schiffs für seinen Einsatz (Foto: Archiv, 1912)
Eine Titanic-Überlebende dankt dem Kapitän eines Rettungs-SchiffsBild: picture-alliance/akg

"Von der Baulichkeit der Schiffe ist es nicht mehr zu leisten, dass eine Evakuierung vernünftig abläuft. Eine Nummer kleiner, eine Nummer vernünftiger, eine Nummer menschlicher wäre zu wünschen." Schiffsbauvorschriften müssten überprüft werden, sagt Jenisch. Er stellt die Frage, warum ein Schiff mit einem großen Riss an der Seite so schnell umkippen konnte. "Hat man denn seit der Titanic nichts gelernt? Es muss funktionieren, dass sich das Wasser nicht überall ausbreitet." Der Untergang der Titanic 1912 ist das weltweit wohl bekannteste Unglück eines Passagierschiffs. 2200 Menschen waren an Bord, knapp 1500 kamen beim Untergang des Ozeanliners ums Leben. Darunter übrigens auch der Kapitän. Er blieb bis zuletzt an Bord des Schiffes.

Autor: Klaus Jansen
Redaktion: Nils Naumann