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"Wahrscheinlich sterben die Verantwortlichen, ehe sie angeklagt werden"

Victoria Eglau20. Februar 2009

In Argentinien hat erneut ein Gerichtsprozess wegen Verbrechen während der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 begonnen. Mit dem Prozessbeginn wird immer mehr Kritik an der Langsamkeit der juristischen Aufarbeitung laut.

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Fordert Gerechtigkeit: Adriana Calvo, Vorsitzende der Vereinigung ehemaliger VerschwundenerBild: DW / Victoria Eglau

Der Prozess gegen den Ex-Militär Jorge Olivera Róvere ist der erste gegen einen hochrangigen Vertreter des Ersten Heereskorps, seit vor knapp sechs Jahren in Argentinien die Amnestiegesetze aufgehoben wurden. Zum Zuständigkeitsbereich des Ersten Heereskorps gehörten die Hauptstadt Buenos Aires und ein grosser Teil der gleichnamigen Provinz. "Wegen der hohen Einwohnerzahl ist Buenos Aires zweifellos der Ort in Argentinien, an dem die meisten Menschen verschleppt wurden", erklärt Adriana Calvo, Vorsitzende der Vereinigung ehemaliger verschwundener Gefangener, die in dem Prozess als Zeugin aussagen wird. "Die Verschleppten wurden nicht nur in illegale Gefängnisse in der Hauptstadt, sondern auch in der Provinz gebracht. Olivera Róvere ist für Tausende und Abertausende Opfer verantwortlich."

Konkret ist der 82jährige Olivera Róvere wegen des Mordes an vier uruguayischen Staatsbürgern, wegen Folter und der gewaltsamen Verschleppung von 120 Personen angeklagt, von denen ein grosser Teil nie wieder aufgetaucht ist – anders als Adriana Calvo, die drei Monate in verschiedenen Gefängnissen festgehalten wurde und überlebte. Ex-Militär Olivera Róvere will während des Prozesses nicht aussagen. Seinem Verteidiger zufolge, einem ehemaligen Richter der Diktatur, sind die Taten, die Olivera Róvere vorgeworfen werden, verjährt. Allerdings handelt es sich bei Folter und Verschleppung um nicht verjährbare Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Prozesse gegen Repressoren haben noch keine Priorität

Gerichtsgebäude des Tribunals Oral Federal Nummer 5
Gerichtsgebäude des Tribunals Oral Federal Nr. 5 in Buenos AiresBild: DW / Victoria Eglau

Nach Olivera Róvere soll auch anderen hochrangigen Angehörigen des Ersten Heereskorps der Prozess gemacht werden. Adriana Calvo: "Es koennten auch die Chefs der anderen Unterzonen vor Gericht gestellt werden, aber bisher wurde noch nicht einmal mit den Anklagen begonnen. Das dauert alles sehr lange. Wahrscheinlich sterben die Verantwortlichen, bevor sie angeklagt werden", fürchtet die Überlebende des Staatsterrorismus.

Die Langsamkeit, mit der die Militärherrschaft juristisch aufgearbeitet wird, ist dieser Tage ein Thema in Argentinien. 44 Verurteilungen hat es in den letzten knapp sechs Jahren gegeben, Hunderte Beschuldigter warten auf ihren Prozess – viele davon in Freiheit – und auf mehrere Tausend schätzen Menschenrechtsorganisationen die Zahl der Diktaturverbrecher. Am vergangenen Mittwoch forderten Gruppen wie die Grossmütter der Plaza de Mayo von Präsidentin Cristina Kirchner Strategien, um die Arbeit der Justiz zu beschleunigen. Wenige Tage zuvor hatte der Präsident des Obersten Gerichtshofes, Ricardo Lorenzetti, erklärt, die Prozesse gegen die Verantwortlichen der Diktaturverbrechen müssten eine Priorität sein. Und Cristina Kirchner selbst forderte die Justiz auf, die Repressoren zu verurteilen.

Spektakuläre Prozesse als Feigenblatt?

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Die Marineakademie ESMA, das größte Folterzentrum während der DiktaturBild: DW

Adriana Calvo von der Vereinigung ehemaliger verschwundener Gefangener wirft der Präsidentin deswegen Heuchelei vor: "Sie tut so, als wären die Richter die einzigen Schuldigen. Unsere Präsidentin, und ihr Vorgänger, haben die Angewohnheit, so zu tun, als hätten sie selbst keine Verantwortung. Keine der drei Staatsgewalten tut etwas, damit die Gerichtsverfahren beschleunigt werden." Um dies zu erreichen, fordert Adriana Calvo von der Exekutive eine aktive Politik. "Zum Beispiel müsste die Regierung den Richtern die Listen aller Mitarbeiter der Diktaturgefängnisse überreichen, das könnte sie. Also, die Archive der Unterdrückung öffnen. Die Regierung tut auch nichts, um die Staatsanwälte für die Diktaturprozesse auszubilden."

Die Arbeit der argentinischen Justiz nennt Calvo eine Parodie. Sie kritisiert, es würden nur sehr hochrangige Militärs vor Gericht gestellt, und diejenigen, die von überlebenden Gefangenen erkannt worden seien. "Das sind aber höchstens fünf Prozent der Diktaturverbrecher. Viele, von denen wir beweisen können, dass sie in den Gefängnissen im Einsatz waren, werden nicht belangt." Ähnlich sieht es auch Liliana Mazea, Anwältin des Bündnisses Gerechtigkeit Jetzt, das im Prozess gegen den Ex-Militär Olivera Róvere zu den Klägern gehört. "Ich glaube, gewollt ist, dass nur einige spektakuläre Prozesse stattfinden, wegen der Verschleppung sehr bekannter Personen, und dass damit der Bevölkerung weisgemacht werden soll, dass die Vergangenheit gründlich aufgearbeitet wird. Während wir tatsächlich noch gar nicht richtig angefangen haben – keiner redet zum Beispiel bisher von den Zivilisten, die mit den Militärs kollaboriert haben."

In Buenos Aires gibt es für die Diktaturprozesse nur ein einziges Gericht – jenes, vor dem nun Olivera Róvere steht. Um zu verhindern, dass Täter und Angehörige der Opfer sterben, ohne dass Gerechtigkeit geschaffen wurde, fordert Juristin Mazea die Einrichtung neuer Tribunale, die auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit spezialisiert seien.