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"Wachsendes Interesse an der Sozialdemokratie"

Die Fragen stellte Fengbo Wang24. Mai 2003

Die Stimmung in der SPD ist schlecht - der Streit um die Sozialreformen der "Agenda 2010" erregt die Genossen. DW-WORLD sprach mit einem der Vordenker der SPD, Professor Thomas Meyer.

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140 Jahre SPD: Bundeskanzler Schröder mit viel Parteigeschichte im RückenBild: AP

Was sind die wichtigtsten Grundwerte der Sozialdemokratie heute?

Das ist der Grundwert der Freiheit, also Freiheit sowohl in formaler Hinsicht - Freiheit von Zwang -, wie auch in materieller Hinsicht. Dass diese auf der Basis gleicher Lebenschancen in der Gesellschaft verwirklicht wird, das ist eigentlich die oberste Vorstellung, mit der sich Sozialdemokraten auch von anderen Richtungen unterscheiden.

Es gibt gegenwärtig einerseits einen unsolidarischen, egoistischen Individualismus, der zu einer rein libertären Gesellschaft führt. Das steht der Sozialdemokratie entgegen. Und es gibt natürlich autoritäre Ordnungsvorstellungen, die von der Sozialdemokratie auch nicht akzeptiert werden. Sie grenzt sich da schon nach vielen Seiten ab, vor allen Dingen von autoritären und libertären Wertvorstellungen.

Sie haben die These vertreten, dass der Konflikt zwischen liberaler und sozialer Demokratie der bestimmende Konflikt der 21. Jahrhunderts sein wird. Wie kommt es, dass es ausgerechnet die liberale FDP in Deutschland ist, die ein Ja zu der 1:1-Umsetzung der sozialdemokratischen Agenda 2010 angekündigt hat?

Zwar ist der historische Konflikt der, zwischen einer Sozialdemokratie, die also einen Sozialstaat, eine regulierte Ökonomie, gesellschaftliche Mitbestimmung will, und einer rein liberalen Demokratie, die Marktfreiheit und Eigentumsfreiheit will. In der Bundesrepublik ist dieser Konflikt nicht so scharf ausgeprägt wie anderswo, und es gibt tatsächlich einige Felder, wo sich die politischen Vorstellungen überlappen. Und wenn die SPD jetzt ein Stück stärkere Liberalisierung in diesen Bereichen macht, findet sie natürlich den Beifall der Liberalen. Die wollen aber eigentlich noch weiter gehen in ihrer Liberalisierung – sehr viel weiter als die Sozialdemokraten es jemals akzeptieren würden.

Man hört derzeit oft die Behauptung, Deutschland habe schon lange über seine Verhältnisse gelebt. Dabei werden Verzicht und Eigenverantwortung als die Tugenden genannt, die Deutschland aus der Krise helfen kann. Was ist Ihre Meinung dazu?

Ja, ein gewisses, stärkeres Maß an Eigenverantwortung ist sicherlich nötig. Das ist erstens sowieso gut, weil es eine Tugend ist, Eigenverantwortung zu üben. Es ist zweitens auch nötig, weil aus finanziellen Gründen der Staat nicht mehr die gesamte Verantwortung für alle übernehmen kann. Aber man muss natürlich sehen, dass diejenigen, die ihre Eigenverantwortung nicht wahrnehmen können, um sich ein würdiges Leben zu sichern, das Grundrecht darauf haben, dass der Staat ihnen die Mittel dafür zur Verfügung stellt. Und das ist in jedem Fall eine Verpflichtung, die auch durch den Appell an die Eigenverantwortung nicht aufgehoben werden kann.

Es herrscht Krisenstimmung in Deutschland und in der SPD. Wenn man sich die 40-jährige Geschichte der SPD anschaut: Hat SPD vergleichbare Krise erlebt?

Die SPD befindet sich gegenwärtig tatsächlich in einer Krise. Die Krise hat eine Reihe von Ursachen. Dazu zählen vor allem die finanziellen Probleme des Sozialstaates, bedingt durch die hohe Arbeitslosigkeit, die wiederum bedingt ist durch die schlechte Konjunktur. Und jetzt kommt es darauf an, neue programatische Beschlüsse zu fassen. Das fällt der SPD sehr schwer. Die SPD ist da gespalten. Aber die SPD hat in ihrer Geschichte schon sehr viel schwerere Krisen gehabt, wie zum Beispiel im Ersten Weltkrieg, die zu einer tatsächlichen Spaltung der Partei geführt haben. Und sie hat sich bisher immer wieder gestärkt aus solchen Krisen berappelt und erholt, so dass ich denke, dass diese Krise eine vorübergehende Erscheinung sein wird.

Nicht wenige chinesische Sozialwissenschaftler schwärmen von der Sozialdemokratie als ein vielversprechendes politisches Konzept für das nach-kommunistische China. Manche Partei –Theoretiker haben die Sozialdemokratie sogar als eine ernsthafte Ersatzideologie wieder entdeckt. Wie beurteilen Sie die Akzeptanz der Sozialdemokratie bei der Parteiführung in China?

Meine Kontakte mit Wissenschaftlern in China, aber auch mit Parteifunktionären, zeigen mir, dass es in China ein wachsendes Interesse an den Ideen und an der Praxis der Sozialdemokratie gibt. Wenn man sich Länder anschaut wie etwa Ungarn, wo die ehemals kommunistische Parteielite eine Selbsttransformation hin zur Sozialdemokratie vollzogen hat und dann ihr Land in eine wirklich bessere Zunkunft geführt haben - stabile Demokratie, Wirtschaftswachstum, Wohlstand -, denke ich mir, dass das auch für China in mittlerer Frist ein gutes Modell ist. Denn eine innovative, flexible, dynamische Ökonomie verträgt sich mit einer autoritären Parteiherrschaft nur für eine begrenzte Zeit.

Es gab ja fast 80 Jahre lang einen erbitterten Konflikt zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten. Die kommunistischen Ideen sind gescheitert. Und manche Kommunisten sehen inzwischen ein, dass eine politische Demokratie die bessere Alternative ist.

Prof. Thomas Meyer, Politikwissenschaftler an der Universität Dortmund, ist wissenschaftlicher Leiter der Politischen Akademie der Friedrich-Ebert-Stiftung und stellvertretender Vorsitzender der Grundwertekommission der SPD.