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Gesellschaft

Völkerschauen: Menschen zur Schau gestellt wie im Zoo

Text: Annika Zeitler, Video: Alexander Spelsberg10. März 2017

Feuerländer, Samoaner, Afrikaner in Baströckchen. Vom Kaiserreich bis in die 1930er wurden Menschen aus fernen Ländern vorgeführt wie im Zoo. Diese "Völkerschauen" sind für Theodor Wonja Michael ein Trauma - bis heute.

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Plakat von Carl Hagenbecks Tierpark von 1885. (Foto: Hagenbeck-Archiv)
Bild: picture-alliance/akg-images

"Wir zogen durch ganz Europa mit den Zirkussen, und ich war immer auf Reisen - von Paris bis Riga von Bern über Warschau bis Bukarest", erinnert sich Theodor Wonja Michael. Er ist der jüngste Sohn eines Kameruners, der um die Jahrhundertwende aus der damals deutschen Kolonie in das Deutsche Kaiserreich reiste. "Wir tanzten und traten gemeinsam mit Feuerschluckern und Fakiren auf, doch schon sehr früh begann ich diese Völkerschauen und mein Mitwirken daran zu hassen", sagt der 92-Jährige heute. Lange hat er über diese Zeit nicht gesprochen, doch dann, 2013, hat Theodor Wonja Michael seine Geschichte und die seiner Familie in dem Buch "Deutsch sein und schwarz dazu" aufgeschrieben.

Die Eltern von Theodor Wonja Michael (Foto: Familie Michael)
Die Eltern von Theodor Wonja Michael: der Vater Kameruner, die Mutter DeutscheBild: Familie Michael

Auf ins Showbusiness

Die Familie aus Kamerun schickte Theodor Wonja Michaels Vater Ende des 19. Jahrhunderts nach Europa. In Berlin stellte er schnell fest, dass ihm als Bürger aus einer deutschen Kolonie normale Berufe verwehrt blieben, so genannte "Völkerschauen" boten ihm die einzige Verdienstmöglichkeit.

Die Darsteller der Völkerschauen tourten damals durch Europa wie heute Musiker und Bands. Ihr straffer Zeitplan umfasste mehrere Vorführungen pro Tag – von morgens bis abends wurden sie angegafft. "Es gab zum Teil Verträge mit ihnen, aber die Darsteller wussten nicht, was es bedeutete, in den Völkerschauen Europas aufzutreten. Niemand hatte ihnen beschrieben, was dort genau passiert", sagt die Historikerin Anne Dreesbach. Die meisten hätten Heimweh gehabt, und einige seien auch an Krankheiten gestorben, weil versäumt wurde, sie zu impfen. So starb im Jahr 1880 eine zur Schau gestellte Inuit-Familie an Pocken nach Auftritten in Hamburg und Berlin. Auch bei einer Gruppe von Sioux-Indiandern gab es Todesfälle, sie starben an Schwindsucht, Masern und Lungenentzündung.

Zoodirektor Hagenbeck begrüsst 1927 auf dem Bahnhof Hamburg 100 Samolis aus Afrika, die als Teilnehmer zu einer großen Völkerschau im Tierpark Hagenbeck angeheuert wurden. (Foto: picture-alliance/dpa)
Zoodirektor Carl Hagenbeck zeigt sich 1927 stolz mit Menschen aus Somalia, die er eigens für seine Show nach Hamburg geholt hatBild: picture-alliance/dpa

Carl Hagenbecks Exotenschau

In Deutschland gab es bis in die 1930er Jahre etwa 400 Völkerschauen. Die erste große Völkerschau veranstaltete 1874 der Hamburger Carl Hagenbeck, der zu einem der wichtigsten Tierhändler in Europa aufgestiegen war. "Er hatte die Idee, Zoos nicht nur mit Tieren, sondern auch mit Menschen zu beliefern und sie dort auszustellen. Die Leute waren begeistert, denn sie hatten keinen Fernseher oder Farbfotos und damit auch keine Vorstellung von den Menschen in der Ferne", erklärt Anne Dreesbach. Sie hat vor einigen Jahren erstmals eine Gesamtsicht auf die Völkerschauen in Deutschland publiziert.

Völkerschau - die Illusion einer Reise

Völkerschauen hatte es schon in der frühen Neuzeit gegeben, in der europäische Entdecker und Seefahrer Menschen aus den neu erforschten Gebieten mitbrachten. Doch Carl Hagenbeck verstand es, die Völkerschauen perfekt zu inszenieren: Lappländer traten gemeinsam mit Rentieren auf, Ägypter ritten vor Pyramiden aus Pappmaschée auf Dromedaren, Feuerländer hausten in Hütten und hatten Knochen als Accessoires in den Haaren. "Carl Hagenbeck verkaufte den Zuschauern der Völkerschauen die Illusion einer Reise", sagt die Historikerin Hilke Thode-Arora vom Völkerkundemuseum München.

Völkerschauen"/Theodor Michael

"In der Völkerschau waren wir das, was sich die Menschen in Europa in den zwanziger und dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts unter 'Afrikanern' vorstellten, ungebildete, mit Baströcken bekleidete, kulturlose Wilde", erklärt Theodor Wonja Michael. Er erinnert sich noch daran, wie wildfremde Menschen ihm mit den Fingern durch seine gekräuselten Haare fuhren: "Sie rochen an mir, ob ich echt sei, sprachen in gebrochenem Deutsch und in Zeichensprache mit mir."

Menschenmassen wie heute auf Konzerten

Theodor Wonja Michael kam schon als kleiner Junge Ende der 1920er Jahren zu den Betreibern einer Völkerschau. Sie waren vom Vormundschaftsgericht als seine Pflegeeltern eingesetzt, die offizielle Begründung lautete, man traue seinem Vater die Erziehung von insgesamt vier Kindern nicht zu. Nach dem Tod seiner Mutter, einer deutschen Näherin aus Ostpreußen, wurde die Familie auseinander gerissen. "Unsere Pflegeeltern hatten kein persönliches Interesse an uns, nur an unserer Arbeitskraft", erklärt Michael. Alle vier Kinder kamen bei unterschiedlichen Betreibern von Völkerschauen unter und mussten wie einst ihr Vater einem staunenden Publikum "afrikanisches Leben mit Baströcken" präsentieren und verkaufen. Für Theodor Wonja Michael eine Tortur.

DW Filmpremiere Afro.Deutschland
Theodor Wonja Michael bei der Premiere des DW.Films Afro.DeutschlandBild: DW/T. Kleinod

Wie Fans heute ihren Stars nah sein wollen, wollten es damals auch die Zuschauer den ausgestellten Feuerländern, Eskimos oder Samoanern. Nach einer Berliner Vorstellung im November 1881 drückten sie Zäune ein, zerstörten Bänke und Stühle und durchbrachen Absperrungen. "Das zeigt, was die Völkerschauen bei den Leuten ausgelöst haben – es war praktisch eine Art Ohnmacht", sagt Dreesbach.

Hagenbeck veranstaltete seine letzte Schau "exotischer Menschen" 1931. Theodor Wonja Michael war neun, als sein Vater 1934 im Alter von 55 Jahren starb. Er hat nur wenige Erinnerungen an ihn. Aus den Erzählungen seiner Geschwister weiß er, dass der Vater Anfang der 20er Jahre als Komparse beim damaligen Stummfilm tätig war. Er und seine Geschwister wurden oft ins Studio mitgenommen und dann ebenfalls engagiert. Sie waren eben so "typisch afrikanisch". Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs wurden die Völkerschauen weniger. Die Diskriminierung blieb.

Zum Weiterlesen:
Theodor Wonja Michael: Deutsch sein und Schwarz dazu. Erinnerungen eines Afro-Deutschen, dtv 2013.