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Vorwärts zu den Wurzeln

Ronny Blaschke27. August 2012

Mehr als 4200 Athleten aus 166 Ländern starten bei den Paralympics in London. Nach mehr als 60 Jahren sind die Spiele an ihren Ursprung zurückgekehrt. Der Gründer war ein deutscher Neurologe.

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Läuferin mit paralympischem Feuer am Trafalgar Square. Foto: AP/dapd
Läuferin mit paralympischem Feuer am Trafalgar SquareBild: dapd

Es ist nicht übertrieben, Eva Löffler als Gedächtnis des paralympischen Sports zu beschreiben. "Ich fühle mich mit der Bewegung sehr verbunden", sagte die Bürgermeisterin des Paralympischen Dorfes in London. Löffler hat das Talent, Anekdoten mit Spannung zu erzählen, auch deshalb wurde sie zur Botschafterin ernannt, für Vergangenheit und Zukunft. Während der Begrüßung der Nationenteams dürfte sie vor allem nach ihrem Vater befragt werden: Sir Ludwig Guttmann, den Wegbereiter der Paralympics. "Wäre er heute in London bei uns, er wäre unendlich stolz", sagte Löffler während einer Präsentation. "Sein Traum ist in Erfüllung gegangen."

Am Mittwoch (29.08.2012) sind die 14. Sommer-Paralympics eröffnet worden, die Weltspiele für Sportler mit Behinderung. In zwanzig Sportarten werden 503 Wettbewerbe ausgetragen, mit 4200 Athleten aus 166 Ländern. Aus Deutschland reisten 150 Sportler nach London. Die Briten wollen ein großes, buntes Sportfest mit Rekorden feiern, doch sie wollen sich auch Zeit zur Erinnerung nehmen - denn nach mehr als sechzig Jahren sind die Paralympics zu ihren Wurzeln zurückgekehrt. Und damit zur Geschichte Eva Löfflers.

Rollstuhlfechterinnen bei einem Wettkampf in Mandeville 1957
Behindertensport in den AnfangsjahrenBild: picture-alliance/dpa/empics

Raus aus den Hinterzimmern

Der deutsche Neurologe Ludwig Guttmann, Sohn eines jüdischen Gastwirts, hatte während der Reichspogromnacht am 9. November 1938 sechzig Juden Zuflucht in einer Klinik in Breslau gewährt. "Als die Gestapo kam, hat mein Vater für sie Krankheiten erfunden", sagte Löffler der BBC. 1939 floh Guttmann nach England, mit seiner Frau, zwei Kindern und vierzig Mark in der Tasche. In der Kleinstadt Stoke Mandeville, nordwestlich von London gelegen, revolutionierte er die Behandlung für Querschnittsgelähmte. Sie wurden nicht mehr in Hinterzimmern versteckt, sie erhielten eine Rundumversorgung, ihre Lebenserwartung stieg.

"Guttmann hat schnell erkannt, dass körperliche Herausforderungen für behinderte Menschen wichtig sind", sagt Rickie Burman, Direktorin des Jüdischen Museums in London. Das Museum im Stadtteil Camden Town widmet dem Mediziner eine Ausstellung mit eindrucksvollen Fotografien: Im Herbst 1944 war Guttmann auf seinem Krankenhausgang auf Patienten gestoßen, die in ihren Rollstühlen übers Parkett stürmten und mit Spazierstöcken eine Scheibe wegschlugen. Guttmann spielte mit, so entstand ein neues Spiel: Rollstuhl-Polo.

Premiere mit Pfeil und Bogen

Bald darauf trieben viele Patienten Sport. Die Bewegung stärkte ihr Immunsystem und förderte ihr Selbstvertrauen. 1948 organisierte Guttmann neben dem Krankenhaus einen Wettkampf im Bogenschießen und Tischtennis für Kriegsversehrte. Die Spiele von Stoke Mandeville begannen Ende Juli 1948 – am selben Tag wie die Olympischen Spiele in London. "Als Jude fühlte sich mein Vater mit anderen Minderheiten verbunden", berichtet Eva Löffler. Als elfjähriges Mädchen war sie Helferin bei den Wettbewerben: sie präparierte die Bogen und sammelte Tischtennisbälle auf.

Die Paralympics-Maskottchen Wenlock and Mandeville. Foto: Getty Images
Die Paralympics-Maskottchen Wenlock and Mandeville (r.)Bild: Getty Images

"Guttmann hatte eine Vision, an die viele Menschen heute noch nicht glauben: dass der Sport Menschen mit Behinderung aus aller Welt zusammenführen kann." Chris Holmes spricht mit Ehrfurcht über Guttmann. Der ehemalige Schwimmer ist einer der erfolgreichsten Paralympier der britischen Geschichte, nun verantwortet er im Londoner Organisationskomitee die Planungen der Paralympics. "Wir wollen das Vermächtnis besonders würdigen."

Erstmals unter einem Organisations-Dach

Der Vierjahresrhythmus der Spiele hatte 1960 in Rom begonnen. 1984 kehrten die Paralympics nach Stoke Mandeville zurück, da sich der Olympia-Gastgeber Los Angeles weigerte, auch Sportler mit Behinderung zu begrüßen. "Diese Zeiten sind vorbei", sagt Chris Holmes. "Es gibt keine Trennung zwischen Paralympics und Olympia, wir sind ein Organisationskomitee." Ob Transport, Technik, Versorgung, die Mitarbeiter haben für beide Ereignisse geplant – erstmals in der Geschichte.

Die Paralympics stellen Rekorde auf: 2,2 von 2,5 Millionen Tickets sind verkauft. 6000 Journalisten berichten, alle 55 Sponsoren Olympias stützen auch die Paralympics. Der britische Fernsehsender Channel 4 sendet 150 Stunden lang von den Spielen.

Hohe Standards werden ausgebaut

In Peking haben die Paralympics 2008 einen Wandel markiert. 2000 Busse und 120 Bahnhaltstellen wurden mit Rollstuhlzugängen versehen. Der Standard für Menschen mit Behinderung in Großbritannien ist bereits hoch, und trotzdem wurden in London neue Fahrstühle und Rampen gebaut. Die Briten wollen ihre bei Olympia demonstrierte Volksnähe auch bei den Paralympics fortsetzen. Die BBC hat Ludwig Guttmann ein Fernsehdrama gewidmet, eines der Olympia-Maskottchen heißt Mandeville.

Ludwig Guttmann starb 1980, er hatte vielen Kriegsversehrten das Leben gerettet. Vor wenigen Wochen wurde in der Nähe von Stoke Mandeville eine Bronzestatue von ihm enthüllt. "Die Ähnlichkeit ist verblüffend", sagte seine Tochter Eva Löffler. "Die Paralympics haben ihn ein bisschen lebendig gemacht."