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Vorrang für Minderheiten

Daniel Wortmann25. Juni 2003

Der Oberste Gerichtshof der USA hat die Bevorzugung von Minderheiten an Hochschulen bestätigt. Damit bleibt das seit den 1960er Jahren geltende, aber umstrittene Prinzip der "affirmative action" in Kraft.

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Rassismus oder kulturelle Vielfalt: Studenten vor dem Obersten Gerichtshof der USABild: AP

Einmal mehr war es Sandra Day O'Connor, auf deren Entscheidung es ankam. Die Richterin am Supreme Court, dem Obersten Gerichtshof der USA, deren Stimme als Ausgleichskraft zwischen liberalen und konservativen Kräften schon öfters den Ausschlag gegeben hatte, bestimmte letztlich auch im Fall "Gratz v. Bollinger" das knappe Votum der höchsten Einrichtung amerikanischer Justiz. Zwei weiße Studentinnen hatten die Universität wegen Rassendiskriminierungen im Aufnahmeverfahren verklagt.

Oberster Gerichtshof unter Druck

Der Druck auf das Gericht hätte größer kaum sein können. Interessengruppen, Unternehmen, Politiker, ranghohe Militärs: Sie alle versuchten, den neun Richtern ihre Meinung zur "affirmative action" anzuempfehlen. Während der Begriff sich allgemein auf die Bevorzugung von Minderheiten in Bewerbungsverfahren bezieht, stand in diesen Wochen mit der Universitätszulassung ein besonders weitreichendes Problem auf dem Prüfstand. Immerhin beeinflusst sie Jahr für Jahr die berufliche Zukunft von Hunderttausenden junger Amerikaner.

In der Klageschrift hieß es, die renommierte Universität von Michigan habe die beiden Bewerberinnen zugunsten von Kandidaten aus ethnischen Minderheiten abgelehnt – ein Verstoß nicht nur gegen einzelne Gesetze aus der Zeit der Bürgerrechtsbewegung, sondern zugleich gegen den Gleichheitsgrundsatz der Verfassung.

Vorrecht für Minderheiten

Tatsächlich wird die Sonderstellung von Minderheiten im Aufnahmeverfahren für amerikanische Universitäten seit Jahrzehnten praktiziert. An vielen Hochschulen würde der Anteil der angenommenen Studenten aus ethnischen Minderheiten um mehr als die Hälfte zurückgehen, entfernte man den ethnischen Faktor aus dem Auswahlwettbewerb. Im Jahr 1978 hatte der Oberste Gerichtshof bereits über diese Methode entschieden und eine gewisse, eng begrenzte Berücksichtigung der Rassenzugehörigkeit bei der Beurteilung eines Bewerbers gebilligt.

Das System an der Universität von Michigan indes lässt kaum Zurückhaltung erkennen: Von 150 möglichen Punkten im Bewerbungsprozess erhalten Anwärter aus Minderheiten ohne jeden Leistungsbezug bereits 20 gutgeschrieben. Meist reichen 100 Punkte, um aufgenommen zu werden.

Amerika streitet

Die Diskriminierung erschien den Klägern offensichtlich - und doch konnte sich das Supreme Court vor Solidaritätsbekundungen aus der amerikanischen Gesellschaft kaum retten. Über 60 Großunternehmen, darunter Boeing, Coca-Cola und Microsoft, sprachen sich in einer Erklärung klar für die Bevorzugung von Minderheiten aus. Nur so könne das interkulturelle, vielfältige Arbeitsumfeld entstehen, welches heute zum Erfolg führe. Auch eine Reihe von Militärvertretern wandten sich an das Gericht. Zu wenig Vertreter von Minderheiten unter den Offizieren, die größtenteils an den Hochschulen rekrutiert werden, führten zu mehr Diskriminierung und weniger Disziplin.

Nicht weniger prominent waren die Gegenstimmen. Präsident George W. Bush selbst stellte sich auf die Seite eines "farbenblinden" Amerika. Man dürfe nicht die eine Diskriminierung durch eine andere ersetzen. Ein Kolumnist der "Washington Post" schrieb, man könne die heutige Jugend nicht für Sklaverei und Rassentrennung der vergangenen Jahrhunderte verantwortlich machen.

Vielfalt als oberstes Gebot

Dutzende Hochschulen, besonders jene mit strengen Aufnahmekriterien, applaudierten letztlich am Montag (24.6.2003), als es doch anders kam. "Diversity", Vielfalt im weitesten Sinne, sei ein übergeordnetes staatliches Ziel. Also könne man auf dieses Ziel – entlang strenger Regeln – auch hinarbeiten. Die harten Bandagen ihrer rigorosen Punkteregelung muss die Universität von Michigan aufgeben. Und doch ändert sich nichts daran, dass die individuelle Bewertung von Bewerbern unter einer Vielzahl anderer Faktoren auch auf ihrer Rasse basieren darf.

Der "Weg zum Erfolg" müsse talentierten oder qualifizierten Personen jeder Rasse offenstehen, schreibt Sandra Day O'Connor in ihrer Urteilsbegründung. Wer einer ethnischen Minderheit angehört, beginnt diesen Weg in den USA auch in Zukunft mit einem Vorsprung. Erst in 25 Jahren, so O'Connor, sei ein völliger Wegfall der "affirmative action" zu erwarten.