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Von Sr. Dr. Aurelia Spendel OP, Augsburg

17. Dezember 2011

Puzzlespiel

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Schwester Dr. Aurelia Spendel OP, Augsburg
Bild: Aurelia Spendel

Liebe Hörerinnen und Hörer,

Wenn ich in den Spielwarenabteilungen von Kaufhäusern – oder noch schlimmer – in puren Spielwarengeschäften scheinbar absichtslos herumschlendere, durchzuckt es mich, sobald ich in die Nähe der Puzzlespiele komme. Ich muss dann „nur ganz kurz“ nachschauen, ob Motive angeboten werden, die ich noch nicht kenne. Ob es Anbieter gibt, deren unbekanntes Sortiment mich verheißungsvoll lockt. Immer neu lasse ich meine Spiellust herausfordern durch ein Puzzle-Bild, von dem ich weiß, dass es im Karton in hunderten oder gar tausenden von Steinchen existiert, die erst dann ein Ganzes bilden, wenn ich mir die Mühe mache, mich ihnen intensiv zu widmen.

Meine Puzzlelust begleitet mich von Kindesbeinen an. War es früher ein einfacher Bilderbaukasten, sind es heute Werke, an denen ich manchmal wochenlang sitze, um sie zusammenzufügen. Schaue ich meine Biografie genauer an, fällt mir auf, dass ich immer dann ein Puzzlespiel brauchte, wenn es in meinem Leben nicht recht vorwärts zu gehen schien. Wenn Wesentliches chaotisch auseinanderfiel. Wenn ich merkte, dass sich etwas in meinem Denken, Planen, Hoffen und Glauben ändern wollte, ohne dass ich dieses Neue schon sehen konnte. Ein Puzzlespiel half mir und hilft mir auch heute noch, meine Intuition zu trainieren, genau hinzuschauen und Stück für Stück neue Ein- und Übersichten zu gewinnen.

So ganz absichtslos ist mein Herumschlendern also nicht. Ich bin froh darum, weil ich spüre, dass mir in unübersichtlichen Lebenssituationen und Lebensphasen aus den Tiefenschichten meiner Seele Sicherheit und Ordnungskraft zuwachsen. Wenn ich mich diesem Gespür überlassen kann, werde ich gelassener und kann auch dem Bruchstückhaften vertrauen. Denn ich weiß, dass meine Seele den Weg der Weisheit geht und - wenn ich sie nicht daran hindere - gezielt dem folgt, was meinem Leben Kraft und Weite gibt.

An diese Puzzleerfahrungen musste ich beim Evangelium dieses Sonntages denken, das in den katholischen Gottesdiensten gelesen wird. Der Text erzählt vom Besuch des Engels Gabriel bei Maria aus Nazareth. Er kündigt ihr an, dass sie schwanger werden und einen Sohn zur Welt bringen wird, den sie Jesus nennen soll und der der Sohn des Höchsten genannt werden wird.

Maria weiß als jüdische Frau zwar um den Rahmen jedes Frauenlebens in Israel: Der Messias wird kommen und er wird ein Menschenkind sein. Aber wie und wann und wo wird das geschehen? Und vor allem: durch wen? Durch welche Frau wird er zur Welt kommen? Durch sie? Wenn ja, wie soll das zusammengehen: eine Schwangerschaft und ihr Unverheiratet sein? Erst als Maria klar wird: Gott kennt das ganze Bild, in das sich die Teilstücke ihres Lebens einfügen werden, das Bild von Menschwerdung und Erlösung, von Schöpfung und Vollendung.

Nach der Botschaft des Engels, die Maria annimmt und der sie zustimmt, muss sie Stück für Stück das Bild ihres Lebens neu zusammensetzen. Die Puzzleteilchen ihrer bisherigen Vorstellungen und die der unerwarteten Engelsbotschaft müssen sich zueinander verhalten, damit etwas entstehen kann, was ganz neu ist und doch schon immer im Plan Gottes da war.

Es ist wie bei einem Puzzlespiel: Wenn ich seine Grundstruktur verstehe, wenn ich weiß, wie die einzelnen Elemente zueinander gehören, sehe und verstehe ich die Zusammenhänge von Farben und Linien und kann damit beginnen, nach dem Wesentlichen auch alles andere aufzubauen.

Maria lernt, die vertrauten und die unerwarteten Elemente ihres Lebens als Teilstücke eines Ganzen zu verstehen und Ja zu sagen zu der Herausforderung, die sich ihr darin stellt. Sie wird erwachsen werden als Mutter des Gotteskindes und ihr Leben wird ein gelungenes, vollendetes Leben sein.

Redaktionelle Verantwortung: Dr. Silvia Becker, Hörfunkbeauftragte der katholischen Kirche