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Von Mäusen und Menschen

Silke Bartlick29. März 2006

In Berlin hat die 4. Biennale für zeitgenössische Kunst ihre Pforten geöffnet. Sie gewährt ihren Besuchern nicht nur künstlerisch interessante Einblicke.

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Die Kuratoren der Biennale 2006, Maurizio Cattelan und Massimiliano GioniBild: picture-alliance / dpa

In der St. Johannes-Evangelist-Kirche gibt es längst kein Gestühl mehr. Jetzt steht in der Halle des prächtigen Backsteinbaus eine Installation des Georgiers Andro Wekua, ein raumhoher Kubus, auf dessen Dach eine einsame Kunststofffrau ins Nirgendwo blickt. Und passend zu diesem Sinnbild der Verlorenheit klappert unaufhörlich eine Anzeigentafel von der Art, wie sie gewöhnlich auf Flughäfen oder Bahnhöfen zu finden sind. Nur, dass die Seiten dieser Tafel leer bleiben und beklemmend informationslos.

"Leben von der Wiege bis zur Bahre ist das Thema der diesjährigen Biennale in Berlin. 'Von Mäusen und Menschen' ist eine Ausstellung, die, Wahlverwandtschaften und unerwartete Assoziationen eröffnend, wiederkehrende Stimmungen und Spannungen schafft", charakterisiert Kulturstaatsminister Bernd Neumann diese wichtigste Schau zeitgenössischer Kunst im documenta-Vorjahr. Ihren Titel, "Von Mäusen und Menschen" übernahm sie von einem Roman John Steinbecks, in dem jene sozialen Abgründe beschrieben werden, in denen Mensch und Tier nicht mehr viel voneinander trennt.

Lektion in Sachen Trostlosigkeit

Und tatsächlich präsentiert das Kuratorentrio Maurizio Cattelan, Massimiliano Gioni und Ali Subotnik seinem Publikum eine geballte Lektion in Sachen Trostlosigkeit, Traurigkeit und Einsamkeit. Mit Arbeiten von 70 internationalen Künstlern, die in verschiedensten Gebäuden entlang der geschichtsträchtigen Auguststraße in Berlins Mitte zu entdecken sind. Ein ungewöhnlicher Parcours, den die Biennale-Besucher zu absolvieren haben.

In der Auguststraße überlagert sich die Geschichte der letzten 100 Jahre: in ihrem Umfeld lebten einst die armen Juden Berlins, hier schrieben Alfred Döblin und Gerhard Hauptmann, hier drehte Sternberg seinen "Blauen Engel". Hier wurden zu DDR-Zeiten Plattenbauten zwischen alte Margarinefabriken, Werkstätten, Wohn- und Ballhäuser geklemmt, und hier haben nach der Wende viele Künstler und Galeristen ein neues Domizil gefunden.

Mit der Berlin-Biennale werden ein gutes Dutzend Gebäude in der Auguststraße nun erstmals als Ausstellungsräume genutzt, darunter Wohnungen, Büros, ehemalige Pferdeställe, ein morbider Spiegelsaal im Ballhaus Mitte und die ehemalige Jüdische Mädchenschule, deren abblätternde Tapeten, herausgerissene Leitungen und verblasste Anschläge von einem langen Dornröschenschlaf künden.

Kunst und alltäglicher Wahn

So werden die Orte selbst zum Akteur, subtil unterstützt durch die klug inszenierten Arbeiten der Künstler. Wir haben ausgewählt, was uns angesprochen hat, sagt Massimiliano Gioni, Und das sind Arbeiten, die in unterschiedlichster Weise den alltäglichen Wahn durchscheinen lassen - wie die Sprachblätter des autistischen Künstlers Christopher Knowles, die lustvoll ausgebreiteten 387 Miniatur-Häuser des Wiener Versicherungsangestellten Peter Fritz, Gilliam Wearings Alkoholiker-Videos oder Paul McCarthys 1992 entstandenes Haus, dessen laut schlagende Türen und aufklappende Wände auf das sich ständig neu erfindende, doch nie sichere Leben verweisen.

Bei ihrer Suche nach Künstlern, die die Härten des Lebens zum Ausdruck bringen, sind die Kuratoren in Mittel- und Osteuropa besonders häufig fündig geworden. Und manche dieser Künstler übertragen das Ausstellungsmotto, die Gleichsetzung von Mensch und Mäusen, ganz direkt: So hat der Albaner Anri Sala ein paralysiertes Pferd am Rande einer Autobahn gefilmt und der junge Rumäne Mircea Cantor fängt die Klaustrophobie eines Wolfes und eines Rehs mitten in einer Galerie ein. Melancholische Metaphern, die nichts von der Verkopftheit und Theorielast jener Arbeiten haben, die die zeitgenössische Kunst vor nicht allzu langer Zeit noch zu dominieren suchten. Und im Hof der Kunstwerke erschallt aus den Lautsprechern böses Gelächter.