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Von der Tora zur Waffe?

Rayna Breuer10. Juli 2012

Politische Kehrtwende des konservativen Likud-Blocks von Premier Netanjahu: In Israel sollen in Zukunft auch strenggläubige orthodoxe Juden Militärdienst leisten.

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Fünf israelische Soldaten an der Grenze zum Libanon. (Foto: EPA/HASSAN BAHSOUN)
Bild: picture-alliance/dpa

"Wir wollen nicht die Dummen sein" - noch am Sonntag (08.07.2012) demonstrierten rund 20.000 Israelis für eine Ausweitung der Wehrpflicht auf alle Bürger. Bisher gab es Ausnahmen, die strenggläubigen orthodoxen Juden und die israelischen Araber waren vom Dienst an der Waffe befreit.

Jetzt hat sich Ministerpräsident Benjamin Netanjahu den Demonstranten und vor allem seinem Koalitionspartner, der Kadima-Partei, die stets für eine Neuregelung der Wehrpflicht plädierte, gebeugt: "Wir sind Bürger eines Staates und müssen alle gemeinsam die Last des Dienstes für den Staat tragen", sagte Netanjahu.

Eine Armee des Volkes?

Die Entscheidung zeige, so Jerzy Montag, Grünen-Bundestagsabgeordneter und Vorsitzender der Deutsch-Israelischen Parlamentariergruppe, "dass alle Staatsbürger und Staatsbürgerinnen in Israel die gleichen Rechte und die gleichen Pflichten haben". Mit der Reform, so Montag, könnte die Armee wieder zu einem Spiegelbild der Gesellschaft werden.

Porträtbild von Jerzy Montag, Bundestagsabgeordneter von Bündnis 90/DIE GRÜNEN. (Foto: Jerzy Montag)
Jerzy Montag: "Armee sollte die gesamte Bevölkerung repräsentieren"Bild: Jerzy Montag

Während jüdische Israelis in der Regel im Alter von 18 Jahren für zwei bis drei Jahre zum Militär müssen, wurden israelische Araber bislang nur in Ausnahmefällen in die Armee aufgenommen: Die Befürchtung - sie könnten sich bei Kämpfen gegen arabische Feinde als "fünfte Kolonne" erweisen. Die Araber in Israel, die etwa 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen, sollen nun künftig eine Art Zivildienst leisten.

Die Kritik an der bisherigen Praxis richtete sich aber vor allem gegen das Privileg, das ultraorthodoxe Juden von der Wehrpflicht freigestellt wurden. Diese Ausnahmeregelung ermöglichte strenggläubigen Juden, sich ganz der Religion zu widmen. Als der Staatsgründer, David Ben-Gurion, dieses Privileg seinerzeit einführte, waren davon etwa 400 Ultraorthodoxe pro Jahr betroffen. Doch das Blatt wendete sich: Allein im vergangenen Jahr waren es 71.000, die vom Armeedienst befreit wurden, meldete die israelische Zeitung "Jediot Achronot".

Netanjahus Taktieren

Das Thema Wehrpflicht ist hochemotional. Schon seit Wochen gab es für Ministerpräsident Netanjahu kaum ein anderes Thema. Beinahe wäre er daran gescheitert. Anfang Mai spitzte sich die Situation zu. Damals verfügte Netanjahus Regierung nur über eine dünne Mehrheit, die unter anderem durch die ultraorthodoxen Parteien gestützt wurde: "Diese beiden kleinen, aber mehrheitsbeschaffenden ultraorthodoxen Parteien waren strikt gegen eine Wehrreform in Israel. Netanjahu konnte gar nicht anders, als die Sache vor sich herzuschieben. Durch das Urteil des Obersten Gerichts, das die geltende Regelung als verfassungswidrig eingestuft hat, ist er nun zu einer Entscheidung gezwungen worden", sagt Jerzy Montag.

Drei israelische Soldatinnen bereiten sich nahe Jerusalem auf einen Einsatz vor. (Foto:ddp)
Frauen müssen in Israel zwei Jahre Wehrdienst leistenBild: dapd

Netanjahus politisches Kalkül brachte ihn dazu, die Kadima aus der Opposition in die Regierung zu holen. "Rein rechnerisch hatte das zur Folge, dass Netanjahu nun von den rechten Rändern der Ultraorthodoxen nicht mehr erpressbar ist. Jetzt kann er mit einer großen Mehrheit diese Reform durchführen", sagt Montag. So verhinderte Netanjahu Neuwahlen, doch ein Befreiungsschlag war das nicht. Der Kadima-Vorsitzende Schaul Mofas und Netanjahu zogen nicht am selben Strang: Erst als Mofas mit einem Ausscheiden aus der Regierung gedroht hatte, sollten die Empfehlungen für eine Aufnahme strengreligiöser Männer in die Armee nicht umgesetzt werden, lenkte Netanjahu ein. Und vollzog eine Kehrtwende: Nun soll ein Komitee den Gesetzesentwurf über einen allgemeinen Wehr- und Ersatzdienst ausarbeiten. Die Frist läuft zum 31. Juli ab.

Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu im Porträt (Foto: ddp)
Benjamin Netanjahu: "historischer Schritt".Bild: dapd

Die künftige Rolle der Armee

Jerzy Montag begrüßt zwar die verbesserte Wehrgerechtigkeit, befürchtet aber auch Probleme durch die Einbindung der Ultraorthodoxen: "Die gesamte Westbank steht unter Militärverwaltung, das Verhalten der israelischen Armee gegenüber den halblegalen und ganz illegalen Siedlungen auf der Westbank ist für die gesamtpolitische Situation im Nahen Osten von einer großen Bedeutung". Die israelische Armee würde jetzt schon auf eine falsche Art und Weise auf der Westbank die Siedler schützen, das könnte sich noch verschlechtern, wenn mehr Ultraorthodoxe in der Armee das Sagen hätten, fügt Montag hinzu.

Drei ultra-orthodoxe Juden machen Taschlich. Das ist ein jüdischer Brauch im Anschluss an das Mincha-Gebet des ersten Neujahrstages.(Foto: UPI/Debbie Hill /Landov pixel)
Ultra-Orthodoxe: seit 1948 vom Wehrdienst befreitBild: picture alliance/landov

Ein weiteres Problem könnte die Diskussion um die Wehrpflicht noch mehr aufheizen: Immer weniger Israelis sind bereit, zum Militär zu gehen. Um dem Wehrdienst zu entkommen, gehen immer mehr Menschen zum Militärpsychiater, um sich untauglich schreiben zu lassen. In einem Interview mit Deutschlandradio Kultur erklärte der 20-Jährige Amir: "Wer wirklich will, kann sich freistellen lassen. Ohne dass darüber gesprochen wird, geht Israel indirekt von der Wehrpflichtarmee zu einem Berufsheer über."

Von einer grundsätzlichen Änderung des Charakters und der Bedeutung der israelischen Armee könne aber keine Rede sein, meint Montag. "Zuerst muss die Politik ihre Hausaufgaben machen, also für friedliche Verhältnisse im Nahen Osten sorgen, und wenn das erreicht ist, erst dann wird die Armee in Israel ihre Rolle ändern können."