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Von der Freiheit zu schweigen

Konstantin Klein4. November 2004

Nicht erst seit es Weblogs gibt, ist das Internet ein großes, internationales, weitgehend unzensiertes Forum. Jeder kann sagen, was er will - auch wenn er nichts zu sagen hat.

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Reden ist Silber, Schweigen ist Gold - mit Sprüchen wie diesen haben uns unsere Lehrer schon zu Grundschulzeiten zu indoktrinieren und zum Schweigen zu bringen versucht. Zu allem entschlossene Eltern legten gerne noch einen drauf und behaupteten, vor dem jüngsten Gericht würden alle von einer armen Seele im Laufe ihres Lebens ausgesprochenen überflüssigen Worte noch einmal gezählt und gegebenenfalls gegen die Seele verwendet. All dies waren Bestandteile der allgemeinen Kampagne "Schnauze!". Und mit Ausnahme von Politikern und Talkshow-Moderatoren (und -Gästen!) halten die meisten von uns sich auch an das Gelernte und machen die Klappe nur auf, wenn wir wirklich was zu sagen hatten.

Unsterblich blamieren

Bis vor ein paar Jahren jedenfalls. Bis vor ein paar Jahren hatten wir ja auch nur die Option, Leserbriefe zu schreiben oder unserer unmittelbaren Umgebung auf den Wecker zu fallen. Seit ein paar Jahren aber haben wir das Netz, können uns eine eigene Seite basteln und uns damit unsterblich blamieren (siehe Netzblick vom letzten Mal), und haben ein Publikum, das in die Millionen geht. Theoretisch.

Das ist fein und gut, Meinungsfreiheit, "Free Speech" und all das ganze Zeugs. In vielen Länder der Welt ist das Internet sogar die einzige Möglichkeit, sich allgemein Gehör zu schaffen. Und deshalb ist das Internet eine gute Sache und gehört unbedingt verteidigt - gegen diejenigen, die es kontrollieren (sprich: Meinung unterdrücken) wollen. Aber auch gegen diejenigen, die es zuquatschen (sprich: zuquatschen).

Wüste Thesen für das gläubige Volk

Das Netz birgt in dieser Hinsicht nämlich ein paar Gefahren, die es in der analogen Welt nicht gibt. In der analogen Welt, beispielsweise einer deutschen Fußgängerzone, ist es vergleichsweise einfach, dem Flugblattverteiler an der nächsten Ecke anzusehen, ob er in die Kategorie "harmloser Spinner" fällt oder nicht. Und seinem Flugblatt ist meist anzusehen, ob es im Copy-Shop entstanden ist oder doch auf einer ernsthaften Druckerpresse. Im Internet ist das ein wenig schwieriger: Eine seriös aussehende Website bekommt jeder hin, der ein wenig von Rechtschreibung versteht und sich von animierten GIFs und augenkrebserzeugenden Farben fernhält. In einer derartigen Verpackung lassen sich dann die wüstesten Thesen ohne Probleme unters gläubige Volk bringen.

Denn das ist ein Problem, das die aktuelle Netzkultur prägt: das Volk glaubt gerne. Es glaubt schon seit Jahren, und ohne einen Funken von Einsicht, dass Klicks auf angebliche Nacktbilder junger Popkünstlerinnen tatsächlich derartige Nacktbilder produzieren (und nicht etwa den Rechner mit bösen Viren infizieren), dass im Internet bestelltes - und im Zweifelsfall gefälschtes - Viagra tatsächlich die Ehe repariert. Und dass einmalige Geschäftsmodelle funktionieren, nur weil sie übers Netz verbreitet werden. Offensichtlich wirkt alles, was der Computer uns anzeigt, wie von Bill Gates persönlich gegengezeichnet, und nur eine Minderheit wird bei dieser Vorstellung argwöhnisch.

Dichtung und Wahrheit

Doch die Überzeugungskraft einer ordentlich gemachten Website, unabhängig vom tatsächlichen Wahrheitsgehalt des Inhalts, ist nur das eine. Blicke in Chatrooms, Internetforen und die Kommentarseiten von Weblogs zeigen auch, dass die Anonymität im Netz nicht nur den guten Menschen Schutz bietet, sondern auch den verbalen Wildsäuen. Im gerade verflossenen US-Wahlkampf, in einem Land, das politisch tief und ziemlich genau in der Mitte gespalten ist, wurde das besonders deutlich: Gerüchte, schwachköpfige Argumente und Beleidigungen flogen hin und her, dass es eine wahre Pracht war. Mit dem Ergebnis, dass das Land, wenn überhaupt möglich, noch tiefer gespalten ist, dass sich Demokraten und Republikaner unversöhnlich wie nie gegenüberstehen, und dass es immer schwieriger wird, Dichtung und Wahrheit zu unterscheiden.

In den demokratischen Ländern der Erde nehmen wir Rede- und Meinungsfreiheit als gegeben hin - und übersehen dabei zweierlei: Erstens ist Rede- und Meinungsfreiheit durchaus nicht selbstverständlich, sondern hart erkämpft. Und zweitens schließt die Redefreiheit eine andere Freiheit nicht automatisch aus: Die Freiheit, auch mal die Klappe zu halten, um des guten Tons und lieben Frieden willens.