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Freier Fall

29. Dezember 2009

Die Finanzkrise schlägt auf die Realwirtschaft durch, die Wirtschaft im freien Fall - bis zur vorsichtigen Entwarnung in der zweiten Jahreshälfte - eine Wirtschaftschronik des Jahres 2009.

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Eine Männerhand zeigt mit dem Daumen nach unten (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/ dpa
Wirtschaftsminister: Rainer Brüderle (Foto: AP)
Neuer Wirtschaftsminister: Rainer BrüderleBild: AP

Es ist schon erstaunlich: Jedes Jahr müssen wir neue Begriffe lernen, wenn wir über Wirtschaft reden. Im vergangenen Jahr machten die Begriffe Finanzkrise, Kreditklemme, Rettungsschirm und das Wort Soffin Furore, letzteres steht für den Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung, für den es sogar ein eigenes Gesetz gibt. Aber es gibt nichts, was man nicht noch steigern könnte. Oder hätten Sie gedacht, dass Ihnen im nun zu Ende gehenden Jahr die Begriffe Abwrackprämie, Exit-Strategie, Rettungsübernahmegesetz oder Wachstumsbeschleunigungsgesetz von den Lippen kommen?

Ja ja, es ist schon ein Kreuz mit den neuen Namen und Begriffen. Selten hat es ein Jahr gegeben, in denen sich die Deutschen gleich drei Namen für das Amt des Wirtschaftsministers merken mussten. Der CSU-Politiker Michael Glos hatte im Frühjahr keine Lust mehr und warf am 7. Februar die Brocken hin. Zwei Tage später übernahm sein Parteifreund Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg das Amt - freilich nur bis zur Bundestagswahl am 27. September. Seitdem müssen wir uns den Namen des FDP-Politikers Rainer Brüderle merken. Oder vielleicht auch nicht. Denn Wirtschaftspolitik wird in Deutschland nicht im Wirtschaftsministerium gemacht, sondern vom Finanzminister. Oder gleich von der Kanzlerin.

Der Staat als Feuerwehr

Bundeskanzlerin Angela Merkel (Foto: AP)
Musste öfter Feuerwehr spielen als ihr lieb war: Bundeskanzlerin Angela MerkelBild: AP

Und die musste erst einmal Feuerwehr spielen. Denn in Deutschland spielten sich erstaunliche Parallelen zu den Vereinigten Staaten von Amerika ab. Dort hätte die Pleite der Investmentbank Lehman Brothers fast zur Kernschmelze des gesamten Bankensystems geführt. In Deutschland war es der Immobilienfinanzierer Hypo Real Estate, der das Bankensystem fast zum Kollaps gebracht hätte.

"Wir haben international versprochen, dass keiner mehr eine Bank, die andere mitreißen könnte, insolvent gehen lässt. Und aus diesem Grund muss der Bund die Gestaltungskraft in der Hypo Real Estate bekommen", sagte die Kanzlerin im Frühjahr - und das heißt nichts anderes als Verstaatlichung. Am 3. April stimmt der Bundesrat dem so genannten Rettungsübernahmegesetz zu. Ein absoluter Tabubruch - denn damit kann in Deutschland erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg eine marode Bank zwangsverstaatlicht werden - was bei der Hypo Real Estate auch passiert, nachdem Bund und Banken zuvor fast 110 Milliarden Euro in das Institut gepumpt haben.

Dagegen ist der Deal mit der Commerzbank, Deutschlands zweitgrößtem Geldhaus, vergleichsweise billig. Für zehn Milliarden Euro übernimmt der Staat die Sperrminorität von 25 Prozent plus einer Aktie. Was Ulrich Maurer von den Linken zu einer erstaunlich kapitalistischen Einschätzung veranlasst: "Wenn wir für diese Bank mehr bezahlen als sie im Moment am Markt wert ist - und das hat die Bundesregierung gemacht-, dann gehört sie anschließend auch dem Staat. Und dann wollen wir sinnvollerweise alle Aktien dafür haben." Und Renate Künast von den Grünen ergänzt: "Sperrminorität ist definitiv zu wenig. Für die zehn Milliarden hätte man viel mehr Einfluss nehmen können und müssen."

Wirtschaft im freien Fall

Wissenschaftler bei der Vorstellung des Wirtschaftsgutachtens (Foto: AP)
Das Frühjahrsgutachten war nicht zum Lachen: Minus sechs ProzentBild: AP

Aber egal - Einfluss nehmen muss die Bundesregierung an allen Ecken und Enden, mehr als ihr lieb ist. Denn die globale Wirtschaftskrise lässt den Welthandel und die weltweite Nachfrage einbrechen - und das trifft eine Exportnation wie Deutschland besonders hart. "Die deutsche Wirtschaft befindet sich im Frühjahr 2009 in der tiefsten Rezession seit der Gründung der Bundesrepublik. Alles in allem wird sich das Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2009 voraussichtlich um sechs Prozent verringern", sagt Kai Carstensen vom Münchener Ifo-Institut bei der Vorstellung des Frühjahrsgutachtens der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute. Tatsächlich befand sich die deutsche Wirtschaft im Winterhalbjahr im freien Fall. Die Aufträge im Maschinen- und Anlagebau, Deutschlands Vorzeige- und Exportbranche Nummer Eins, brechen um mehr als die Hälfte ein, die Zahl der Firmenpleiten schnellt um 16 Prozent in die Höhe - auf 34.300, mehr als eine halbe Million Arbeitsplätze werden vernichtet.

Nur für eine Branche wird das Krisenjahr zum Rekordjahr: Die Automobilindustrie verkauft 3,7 Millionen Autos, dank der Umweltprämie zur Verschrottung von Altautos, im Volksmund auch Abwrackprämie genannt. Zwei Millionen Fahrzeuge wurden im Sommer verkauft, weil es für jedes verschrottete Altauto 2 500 Euro Belohnung gab. Fünf Milliarden Euro ließ sich die Bundesregierung dieses Konjunkturprogramm kosten. "Viel rausgeschmissenes Geld der Steuerzahler", meinte Renate Künast von den Grünen. "Fünf Milliarden Euro, nur um so ein paar Parkplätze oder Autohäuser leer zu fegen, und nächstes Jahr stehen wir wieder vorm Desaster."

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Abwrackprämie sorgt für Autoboom

Schrottplatz Abgewrackte Autos (Foto: AP)
Sorgte für einen Boom in der Autobranche: Die AbwrackprämieBild: AP

Eine gefährliche Subventionspolitik, meint auch Wolfgang Franz, einer der Fünf Wirtschaftsweisen: Denn sie gehe zu Lasten anderer Unternehmen. "Jetzt kaufen die Leute halt mehr Autos, weniger Sofas oder Flachbildschirme. Außerdem ist das ein Strohfeuer. Im nächsten Jahr werden dann weniger Autos verkauft Und drittens - diese fünf Milliarden, die müssen ja finanziert werden. Das Geld fällt ja nicht vom Himmel. Und dann müssen wir Steuern erhöhen, und dann wird das Jammern wieder groß sein."

Deutschland, ein Jammertal. Wie gut, dass man sich da auf internationaler Bühne präsentieren kann: "Heute ist der Tag, an dem die Welt zusammenkam, um gegen die globale Rezession zurückzuschlagen. Nicht mit Worten, sondern mit einem Plan für eine weltweite Erholung und für Reformen mit einem Fahrplan für die Umsetzung", sagte Großbritanniens Premier Gordon Brown als Gastgeber des G20-Gipfels in London, wo weitreichende Kontrollen für risikoreiche Finanzmarktprodukte, Hedgefonds, Ratingagenturen und Managergehälter beschlossen wurden.

Die G8 hat ausgedient

Gordon Brown und Angela Merkel bei G20 Gipfel in London (Foto: AP)
Gordon Brown und Angela Merkel bei G20 Gipfel in LondonBild: AP

"Heute wurde das Wort von der 'neuen Weltordnung' in den Mund genommen. Aber diese neue Weltordnung muss auch für 192 Länder funktionieren und nicht nur für acht oder für 20. Und darauf kommt es an in der Zukunft", gibt Jörn Kalinski zu bedenken, Beobachter der Nichtregierungsorganisation OXFAM. Eines aber wurde immer deutlicher: Die G8, der Club der reichen Industrieländer, hat als Weltenlenker ausgedient. "Die G8 ist einmal in einer Krise entstanden", sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel vor dem G8-Gipfel in L'Aquila. "Die wichtigsten Industrieländer haben sich zusammengeschlossen, um ein Forum zu schaffen, auf dem über die Zukunft der Weltwirtschaft gesprochen werden kann. Der Gipfel in L'Aquila wird deutlich machen, dass das G8-Format nicht mehr ausreicht." Die Welt wachse zusammen. Die Probleme können von den Industriestaaten nicht mehr allein gelöst werden", sagt die Kanzlerin weiter.

Tatsächlich sind die so genannten Schwellenländer aufgerückt - auf Augenhöhe mit dem vormals exklusiven Club der reichen Industrieländer. China, Indien, Brasilien - diese Länder haben die Krise weitaus besser weggesteckt, China wird auch im Krisenjahr 2009 um über acht Prozent wachsen, und die Schwellenländer mutieren zum Hoffnungsträger als Motor für eine Erholung der Weltwirtschaft. Auch in Deutschland gibt es etwa seit der Mitte des Jahres erste Anzeichen einer Erholung: "Wir kriegen so langsam wieder festen Boden unter die Füße", sagte Mitte des Jahres Manfred Wittenstein, Präsident der deutschen Maschinen- und Anlagenbauer. "Aber es werden nicht alle das rettende Ufer erreichen. Und in jedem Fall werden wir noch geraume Zeit zu kämpfen haben."

"Geordnete Insolvenz"

Warnstreik bei Opel in Rüsselsheim (Foto: dpa)
Warnstreik bei Opel in RüsselsheimBild: DPA

Auch andere müssen kämpfen - zum Beispiel der deutsche Autobauer Opel, Tochter des amerikanischen Automobilkonzerns General Motors. "Wenn die Risiken zu hoch sind, muss eine geordnete Insolvenz als Option auf dem Tisch bleiben. Das bedeutet ja nicht den Untergang eines Unternehmens", sagte Wirtschaftsminister Guttenberg, worauf sich viele Beobachter fragten, ob es denn auch eine ungeordnete Insolvenz gibt. Guttenbergs Worte waren wohl mehr in Richtung der GM-Zentrale in Detroit gemeint, eine sanfte Drohung, Opel doch bitteschön an den österreichisch- kanadischen Autozulieferer Magna zu verkaufen.

Doch nix da, GM blies den Verkauf in letzter Minute ab. In Deutschland machte sich Empörung und Angst um die vier deutschen Standorte breit - doch GM will sie erhalten, auch wenn bis zu 5 400 Jobs auf der Kippe stehen. Europaweit sollen bis zu 9000 Jobs gestrichen werden. Immerhin zahlt der Konzern in Detroit der Bundesregierung einen Überbrückungskredit von 1,5 Milliarden Euro zurück.

Doch Opel war nicht das einzige Sorgenkind. "Die Arcandor AG stellt heute einen Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens beim Amtsgericht Essen. Die Unternehmen Karstadt Warenhaus GmbH, Primondo GmbH und Quelle GmbH stellen im Nachgang ebenfalls einen Antrag auf Gläubigerschutz", musste im Juni Gerd Koslowski, Sprecher der Essener Konzernzentrale verkünden. Das Ende eines jahrelangen Überlebenskampfes, das Aus für die traditionsreiche Versandhandelstochter Quelle mit mehr als 10 000 Mitarbeitern. Während Quelle niemand kaufen wollte, scheint es immerhin mehrere Interessenten für Karstadt, die Warenhaus- Säule des Handelskonzerns zu geben.

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Opel ja, Arcandor nein?

Das Quelle-Logo auf einem Lastwagen (Bild: DW)
Nach der Arcandor-Insolvenz: Aus für QuelleBild: picture-alliance / dpa / DW Montage

Was in der Regierungskoalition einen Streit auslöste: Warum Opel mit Milliarden helfen, für Karstadt und Quelle aber keinen Cent rausrücken? "Wir brauchen keine Aufgabenverteilung in der Bundesregierung derart, dass der eine, der Arbeitsminister, über Beschäftigung spricht, und der andere von vornherein über Insolvenzen. Das war bei Opel nicht gut und das ist auch bei Arcandor nicht optimal", bemerkte der damalige Bundesbauminister Wolfgang Tiefensee über den Streit zwischen SPD- und Unionsministern über staatliche Hilfen für Arcandor. Die sind, anders als bei Opel, ausgeblieben.

Weil die Konzernspitze wenig Engagement und Interesse an tragfähigen Sanierungskonzepten gezeigt habe, hieß es in der Regierung: "Ohne eine Zukunftsperspektive ist die Inanspruchnahme von staatlichen Hilfen überhaupt gar nicht denkbar", war von der Kanzlerin zu hören. "Ich weiß um die Sorgen und Nöte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei Arcandor. Aber wir werden keine Lösungen aufzeigen, von denen wir wissen, dass sie gerade einmal drei, vier, fünf, sechs Monate halten, aber letztlich keine Lösung für dauerhafte Arbeitsplätze sind." Punktum. Die Quelle-Mitarbeiter zählen jedenfalls zu den Verlierern des Jahres 2009 - unverschuldet.

Der größte Anlagebetrug aller Zeiten

Bernard Madoff (Foto: AP)
Hat seine Kunden um 60 Milliarden erleichtert: Bernard MadoffBild: AP

Andere zählen auch zu den Verlierern - aber die haben selbst schuld. "Hallelujah. Ich bin so froh, ich hoffe, er erlebt alle 150 Jahre davon." "Ich bin meine Altersversorgung los. Jetzt kann ich ungefähr dann in Rente gehen, wenn Bernhard Madoff aus dem Gefängnis kommt, in 150 Jahren", so reagierten verbitterte Anleger in New York auf den größten Anlagebetrug aller Zeiten. Bernhard Madoff - der New Yorker Anlageberater bekam Ende Juni die Rechnung für den größten Betrug der Finanzgeschichte präsentiert. Um 60 Milliarden Dollar hatte er seine vertrauensseligen Kunden betrogen - und dafür 150 Jahre Gefängnis kassiert. Im Herbst wurden seine Uhren, sein Schmuck und sein Hausrat versteigert. Dabei kam eine Milliarde Dollar zusammen - für seine Opfer ein Tropfen auf den heißen Stein.

Wenig freuen dürfte sich auch Wendelin Wiedeking. Der gebürtige Westfale hatte aus dem kränkelnden Sportwagenbauer Porsche eine Premium-Marke mit traumhaften Renditen gemacht. Doch dann kam er auf die Idee, den 13mal größeren Konzern Volkswagen übernehmen zu wollen. Doch das führte zum Sturz des Konzernchefs mit dem Macher-Image. Denn als Porsche sich bis zur Halskrause verschuldete, um die Übernahme zu finanzieren, drehte Volkswagen den Spieß um:

Kein Platz für Wiedeking

Wendelin Wiedeking (Foto: AP)
Kein Platz mehr bei Porsche: Wendelin WiedekingBild: AP

"Volkswagen und Porsche starten heute gemeinsam in eine neue, vielversprechende Ära. Zunächst wird sich Volkswagen mit 42 Prozent an der Porsche AG beteiligen. Am Ende des Prozesses soll 2011 die Verschmelzung der Porsche SE mit der Volkswagen AG zu einem neuen, starken Konzern stehen", verkündete Mitte August VW-Chef Martin Winterkorn, nachdem sich die Aufsichtsräte beider Unternehmen geeinigt hatten. Für Wendelin Wiedeking, den Intimfeind des VW-Patriarchen Ferdinand Piech, war da kein Platz mehr - was ihm aber mit einer Millionen-Abfindung versüßt wurde.

Überhaupt: Abfindungen und Bonus-Zahlungen - die sind bei den Banken wieder in, als hätte es die Krise nie gegeben. Und viele Banken verbuchen schon wieder Rekordgewinne. Wobei sie ironischerweise vor allem daran verdienen, dass sich die Regierungen dieser Welt bis zur Halskrause verschulden müssen, um die Konjunktur wieder anzuschieben. In Deutschland musste der Bundestag einen Nachtragshaushalt beschließen, der die Neuverschuldung auf fast 50 Milliarden Euro in die Höhe trieb, und im nächsten Jahr wird sie sogar auf 86 Milliarden Euro steigen.

Rekordverschuldung

"Jeder private Haushalt schaut zuerst, was er einnimmt. Bei den öffentlichen Haushalten ist es genau umgekehrt. Zuerst werden die Ausgaben festgelegt, und dann muss dafür das Geld her. Wenn die Bürger und die Unternehmen in unserem Land so arbeiten würden, dann wären sie pleite. Das kann nicht der richtige Weg sein", sagte der FDP-Finanzpolitiker Carl-Ludwig Thiele, als der Bundestag den Nachtragshaushalt für das Jahr 2009 verabschiedete - aber da war die FDP ja auch noch nicht in der Regierungsverantwortung.

Autor: Rolf Wenkel
Redaktion: Zhang Danhong