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Volksheiliger für eilige Fälle

6. Januar 2002

Vision Gottes oder weiße Magie - in der brasilianischen Metropole São Paulo setzen die Menschen auf Santo Expedito, einen Heiligen für "gerechte und dringende Anliegen".

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Die 17-Millionen-Metropole São PauloBild: AP

In jedem Stadtteil der brasilianischen Finanz- und Industriemetropole São Paulo hängen sie, die Spruchbänder mit dem stereotypen Satz "Ich danke dem heiligen Expedito für die erlangte Gnade", gefolgt von den Initialen des Spenders. Der Adressat ist ein obskurer römischer Legionär aus dem dritten Jahrhundert. Im Augenblick seiner Bekehrung, so die Legende, tauchte ein Rabe auf, der "cras" krächzte - was auf lateinisch "morgen" bedeutet. Der unerschrockene Soldat zermalmte das Tier mit dem Fuß, packte ein Kruzifix und rief aus: "Hodie" (heute)!

Für das Chaos São Paulo ist Expedito ideal

Schutzpatron der brasilianischen Militärpolizisten ist Expedito schon länger, doch seine steile Karriere begann erst im São Paulo der achtziger Jahre. Wer in Nöten ist, kann sich zwar auch an São Judas Tadeu, den Patron der "unmöglichen Anliegen", Santa Rita de Cassia, die Patronin der Verzweifelten oder die für die Schuldner zuständige Heilige Hedwig wenden. Allerdings rangiert in allen Bevölkerungsschichten auf Platz eins Santo Expedito, der Heilige für die "gerechten und dringenden Anliegen".

Kein Wunder, findet der Religionssoziologe Joao Decio Passos: "Für einen so chaotischen Lebensraum wie den unseren taugt in der Tat nur ein Heiliger, der ein halber Supermann ist." Schon der Name sagt es: In Latein bedeutet "expeditus" kampfbereit, schlagfertig, leicht, schnell.

Gute Erfahrungen mit dem Volksheiligen

Der Heilige ist ideal für die bedrängten Paulistaner. Er verlangt keine langwierige Pilgerreise. Nicht einmal eine Kirche muss man aufsuchen, was in der 18-Millionen-Metropole mit ihren endlosen Staus schon wieder zu lange dauern kann. Ist das Gebet erhört, kann das Gelübde flott erfüllt werden: Es reicht ein Vaterunser, ein Ave Maria, eine Bekreuzigung und die weitere Verbreitung seines Namens - durch ein Spruchband oder das Auslegen von tausend Heiligenbildchen.

Emmy de Kouh, eine 72-jährige Rentnerin im Stadtteil Interlagos, die sich als "nicht besonders religiös" bezeichnet, hat nur gute Erfahrungen mit Santo Expedito gemacht. Nachdem sie ihn angerufen hatte, bekam ihre Tochter wieder eine Anstellung, und wenig später wurde ihr eine kostenlose Zahnbehandlung in einem staatlichen Krankenhaus gewährt, worauf man normalerweise monatelang warten muss. Danach schmückte sie ihre Hauswand jeweils mit einem Spruchband zu Ehren des Paulistaner Lieblingsheiligen.

Bewegung "von unten"

Für Cesar Moreno, der das Phänomen in seiner Abschlussarbeit an der katholischen Universität der Stadt unter die Lupe nahm, ist Expedito "wie maßgeschneidert" für São Paulo. Die Begeisterung sei eher eine Bewegung "von unten", die von der Kirche geduldet wird. Der Religionssoziologe Reginaldo Prandi sieht in der Verehrung Expeditos kein Streben nach einer Vision Gottes oder eine Annäherung an das Heilige, sondern schlicht "weiße Magie". (pg)