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Visite auf der Intensivstation

Oliver Pieper15. Februar 2002

Bundeskanzler Gerhard Schröder hat seinen Besuch in Lateinamerika beendet. Besonders das krisengeschüttelte Argentinien braucht jedoch mehr als deutschen Balsam auf die Wunden.

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Freunde erkennt man in der Not – mit diesen Worten versprach Gerhard Schröder dem argentinischen Präsidenten Eduardo Duhalde, dass das bankrotte Land auf Deutschland als Partner zählen könne. Der Bundeskanzler muss sich in Buenos Aires vorgekommen sein wie ein Kranker, der beim Blick auf seinen vor sich hin dämmernden Kollegen auf der Intensivstation merkt, wie gut es ihm eigentlich geht.

Knapp 4,3 Millionen Arbeitslose mit einer Quote von 10,4 Prozent – Peanuts im Vergleich zur Beschäftigungslosigkeit in Argentinien, die – offiziell geschönt – bei 22 Prozent liegt. Wegen des hohen Staatsdefizits gerade noch um den blauen Brief aus Brüssel herumgekommen – Kinkerlitzchen gegenüber einer nunmehr vier Jahre andauernden Rezession und Auslandsschulden von 144 Milliarden Dollar. Das Ende der Mark und eine europäische Währung, die noch immer nicht dem Dollar das Wasser reichen kann – lächerlich im Vergleich zum gerade frei gegebenen Peso, der innerhalb von wenigen Tagen die Hälfte seines ursprünglichen Wertes verloren hat.

Und schliesslich Meinungsumfragen, die der Regierung Schröder am 22. September das Ende der Amtszeit prophezeien, während in Argentinien täglich die Bevölkerung auf die Strasse geht, um mit dem Klappern von Kochtöpfen und – deckeln gegen die Politik des Staatsoberhauptes Duhalde zu demonstrieren. Vielleicht wird der Patient Schröder beim Anblick der argentinischen Verhältnisse sogar schneller gesunden als erwartet – weil der Kanzler vor Augen geführt bekommt, dass die deutschen Beschwerden zum grössten Teil hausgemacht sind und nicht der Hilfe eines Arztes bedürfen.

Argentinien dagegen braucht zum Überleben schon einen Halbgott in Weiss – und der heisst Internationaler Währungsfonds. Gerhard Schröder hat Eduardo Duhalde versprochen, mit seinen Freunden vom IWF zu reden, damit diese Argentinien helfen. Deutschland täte gut daran, sich an die eigene Anamnese zu erinnern – denn 1953 war die Bundesrepublik in einer ähnlich kritischen Überschuldungssituation – und die Gläubiger wendeten die soziale Katastrophe mit einem Schuldenerlass ab. Freunde erkennt man in der Not – und nicht nur an Worten, sondern an Taten.

Taten erwarten auch die 90 Angehörigen der deutschen Staatsbürger, die während der argentinischen Militärdiktatur von 1976 bis 1983 verschleppt und ermordet wurden. Sie fordern vehement die Auslieferung der verantwortlichen Militärs nach Deutschland – was die Justiz Argentiniens bisher erfolgreich blockierte. Für das Treffen mit Gerhard Schröder sah das Protokoll allerdings ganze zehn Minuten vor – ein sehr kleines Trostpflaster, aber immerhin ein Hoffnungsschimmer für die Menschen, die jeden Donnerstag vor dem Regierungspalast in Buenos Aires demonstrieren.