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Vietnamesisches Wunder

29. Oktober 2009

Die Kinder von ehemaligen DDR-Vertragsarbeitern aus Vietnam fallen durch glänzende Schulnoten auf. Der Leistungsdruck und der Ehrgeiz der Eltern sind enorm. Ihr Erfolg aber straft Klischees der Integrationsdebatte Lügen.

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Neugierig auf die Zukunft: Gesichter junger Vietnamesen (Foto: AP)
Neugierig auf die ZukunftBild: AP

Vor Kurzem erfuhr Detlef Schmidt-Ihnen die Zwischenergebnisse seiner Schule bei der Mathematik-Olympiade. Der Rektor des Ostberliner Barnim-Gymnasiums konnte zufrieden sein. Sechs Schüler qualifizierten sich für die nächste Runde auf Landesebene. Relativ neu ist dagegen das Problem, die Namen der ausgezeichneten Schüler korrekt auszusprechen. Hieß die Gewinnerin in der Klassenstufe sieben nun Tran Phuon Duyen oder Duyen Tran Phuon? Und wie war es mit Duc Dao Mihn aus der Zehn?

Keine andere Einwanderergruppe in Deutschland hat in der Schule mehr Erfolg als die Vietnamesen: Über 50 Prozent ihrer Schüler schaffen den Sprung aufs Gymnasium. Damit streben mehr vietnamesische Jugendliche zum Abitur als deutsche. Im Vergleich zu ihren Alterskollegen aus türkischen oder italienischen Familien liegt die Gymnasialquote fünfmal so hoch.

Junge vietnamesische Vertragsarbeiter in einem Plattenwerk der DDR (Foto: picture-alliance)
60.000 Vertragsarbeiter aus Vietnam lebten in der DDRBild: picture-alliance/ ZB

20 Jahre nach dem Fall der Mauer schreiben die Nachkommen der ehemaligen DDR-Vertragsarbeiter eine bislang wenig bekannte Erfolgsgeschichte. Angeworben Mitte der 80er Jahre, erlebten die Arbeitsmigranten aus dem sozialistischen Bruderland nach der Wende in Ostdeutschland häufig den Absturz in Arbeitslosigkeit und Armut, sie waren isoliert, wurden zum Opfer von Fremdenhass. Ihre Kinder jedoch sind nun dabei, mit ungeheurem Fleiß und Bildungsdrang die deutsche Gesellschaft zu erobern. Denn der Druck, gute Noten zu erzielen, ist in vietnamesischen Familien enorm.

Zugleich stellt der Schulerfolg der Vietnamesen eine ganze Reihe vermeintlicher Wahrheiten der Integrationsdebatte infrage. Wer etwa meint, dass Bildungsarmut stets soziale Ursachen hätte, sieht sich durch das vietnamesische Beispiel widerlegt. Auch die These, Migranteneltern müssten selbst gut integriert sein, damit ihr Nachwuchs in der Klasse zurechtkomme, trifft auf die ostasiatischen Einwanderer nicht zu.

Dass ihre Kinder dennoch zu den Musterschülern unter den Migranten wurden, ist der Beleg für die Kraft einer Kultur, deren Strebsamkeit selbst unter widrigen Bedingungen zum Aufstieg führt. Das zeigt sich seit Jahren bereits in den USA, wo überproportional viele Studenten aus asiatischen – genauer: von der konfuzianischen Mentalität geprägten – Nationen die amerikanische Spitzenuniversitäten besuchen. Nun wiederholt sich das Bildungswunder in Deutschland.

Nur immer nach oben – der Ehrgeiz vieler Eltern kennt kaum Grenzen

Kinder vietnamesischer Abstammung fleißig im deutschen Schulunterricht (Foto: picture-alliance/dpa)
Schüler sind nicht unterschiedlich begabt, sondern unterschiedlich fleißig, glauben viele ElternBild: picture-alliance / dpa

Am Berliner Barnim-Gymnasium mischt sich die Freude über die hohen Ambitionen der Eltern seit einiger Zeit mit Sorge. Die Lehrer wurden erstmals hellhörig, als vietnamesische Schüler Arztatteste fälschten, um sich aus Angst vor schlechten Noten vor einer Prüfung zu drücken. Schon eine Drei im Zeugnis lässt bei vielen Eltern die Alarmglocken schrillen. Eine Realschulempfehlung nach der Grundschule bedeutet nicht selten einen Gesichtsverlust in der Community. Nur das Gymnasium – oder als schlechtere Alternative die Gesamtschule – führt zum Abitur, der Rest ist uninteressant. Entsprechen die Leistungen nicht den Erwartungen, gibt es Sanktionen: heftiges Schimpfen, Hausarrest, auch mal Backpfeifen.

Vietnamesisches Neujahrsfest: Kinder und ihre Eltern bestaunen einen Drachen (Foto: dpa)
Vor allem die jungen Vietnamesen leben in zwei KulturenBild: dpa

Die Schule hat reagiert. Sie engagierte eine Sozialarbeiterin und veranstaltete erstmals einen Elternabend mit einem Dolmetscher. Mehrere Stunden dauerte das Treffen, so viele Fragen hatten die Mütter und Väter. Ihre größte Sorge war das Testhalbjahr. Denn neuerdings sind nicht mehr alle Noten der vietnamesischen Schüler durchweg top. Zum ersten Mal könnte es sogar sein, dass einige von ihnen die Probezeit am Barnim-Gymnasium nicht überstehen. "Die vietnamesischen Schüler gleichen sich den einheimischen an", erklärt eine Klassenlehrerin diesen Trend.

Autor: Martin Spiewak

(Auszug aus dem gleichnamigen Artikel in "Die Zeit", 22.01.2009, Nr.05)

Redaktion: Alexander Freund