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Vietnam in Berlin

26. November 2010

Sie gelten als fleißig, unauffällig und anpassungsfähig. Doch kaum jemand weiß, wie Vietnamesen in Deutschland wirklich leben. Das Theater HEBBEL AM UFER will es jetzt herausfinden. In Klein-Vietnam, direkt in Berlin.

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Nach Vietnam fährt man am besten mit der Straßenbahn. Eine gute Viertelstunde braucht die Linie 8 von Berlin-Mitte bis nach Lichtenberg. An der Station Herzbergstraße/Industriegebiet steigt man aus, überquert die Straße und geht durch ein Tor auf das weitläufige Areal, auf dem früher einmal, als es die DDR noch gab, die VEB Elektrokohle ansässig war. Heute stehen zwischen den Industriebrachen vier lange weiße Hallen. Wer sie betritt, ist in Vietnam.

Warenwunderwelt

Blinkende Weihnachtsmänner, Kunstfaserpullover, frischer Koriander und tief gefrorener Fisch, Strumpfhosen, Plastikblumen, DVD’s, Koffer, Reisnudeln, künstliche Fingernägel, Tattoos und adrette Haarschnitte – wohl das meiste, was auf den Märkten von Hanoi angeboten wird, findet man auch in Berlin, auf dem quirligen Dong Xuan Markt.

Collage mit Eindrücken vom Dong Xuan Markt (Foto: Silke Bartlick)
Bild: DW

Bei den Touren, mit denen das Theater Hebbel am Ufer nun durch die Hallen führt, taucht man aber nicht nur in diese filmreifen Warenwelten ein, sondern wird auch mit den Geschichten der Menschen konfrontiert, die hier ihren Lebensunterhalt verdienen. Mal geschieht das mit einer inszenierten Szene, mit einem Spiel, einem Film, einer Installation oder ganz direkt mit einer erzählten Geschichte.

Deutschland, neue Heimat

Anthony Chu ist einer der Vietnamesen, der dabei mitmacht. Er ist 46 Jahre alt. 1979 kam er nach Deutschland, als Flüchtling, als einer der 'boat people'. Seit ein paar Jahren lebt er nun in Berlin und macht im Dong Xuan Center Geschäfte, mit Import/Export, Unternehmensberatung, Projektfinanzierung und Internetdienstleistung. Seine Geschichte erzählt er in einem Wohnwagen, der vor den Markthallen steht. Und er zeigt auch Bilder aus Hanoi und ein paar Zeichnungen und Baupläne. Denn er will investieren, will dieses kleine Berliner Vietnam erweitern, um einen "Markt der 36 Zünfte", mit Silberschmieden, Papierhändlern und Korbflechtern. Und um einen asiatischen Garten, der eine Oase der Ruhe und Entspannung werden soll, inmitten all des Trubels. So möchte Anthony Chu einen Bogen schlagen von seiner Kindheit in Vietnam zur Gegenwart und Zukunft in Deutschland.

Unbekanntes Leben

Viele Vietnamesen hätten keine Lust, von sich zu erzählen, sagt die Autorin und Regisseurin Gesine Dankwarth. "Es gibt einen anderen Begriff von Privatsphäre, das, was man von sich mitteilen möchte". Einige Vietnamesen hat Gesine Dankwarth aber zusammen mit Hebbel-Theater-Chef Matthias Lilienthal dazu gebracht, ihre so unterschiedlichen Geschichten zu erzählen: Bootsflüchtlinge wie Anthony Chu, die ihre Heimat nach Ende des Vietnamkriegs aus politischen Gründen verlassen haben und im Westteil des damals noch geteilten Berlin vorbildlich aufgenommen wurden. Ehemalige Vertragsarbeiter, die seit 1980 in die DDR entsandt wurden und nach der Wende um Überleben und Aufenthaltsrecht kämpfen mussten, sowie die nach 1990 illegal eingereisten Asylbewerber. Und ihrer aller Kinder.

Collage mit Eindrücken vom Dong Xuan Markt (Foto: Silke Bartlick)
Bild: DW

Lehrer erleben vietnamesische Schüler zumeist als besonders fleißig und strebsam. Aber, sagt Gesine Dankwarth, sie stehen auch unter einem hohen Druck. In der Schule müssen sie gute Noten ranzuschaffen, dann Fächer studieren, die Erfolg versprechen und nebenbei noch in den Läden der Eltern aushelfen. Die aufstiegsorientierten Eltern arbeiten selber sehr hart, in kleinen Lebensmittelläden und in Restaurants, und sind deshalb wenig zu Hause. Deshalb gäbe es in den Familien oft Probleme, "auch Reibungen zwischen den Werten der Vietnamesen, den traditionellen Werten, und denen der deutschen Gesellschaft."

Berührende Geschichten

Öffentlich darüber gesprochen wird jetzt, im Rahmen des Theaterprojekts, bei laufendem Betrieb in den Geschäften und auf den Gängen des Dong Xuan Centers – und in den Inszenierungen von Künstlern aus Vietnam, Deutschland und den USA. Von Akademikern erfährt man, die zu Händlern wurden, und von Händlern, die in die Kriminalität abrutschten, von verzweifelten Jugendlichen, von Glücksrittern, Sehnsüchten, Alpträumen und von Einsamkeit, die der Preis der Integration sein kann. Vietnam gibt es auch in Berlin-Lichtenberg und das Dong-Xuan Festival macht seine Entdeckung jetzt um einiges leichter.

Autorin: Silke Bartlick

Redaktion: Marlis Schaum