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Uns geht's zu gut

Christoph Hasselbach25. Mai 2014

Euroskepsis und Desinteresse haben die Europawahl geprägt. Europas Bürger müssen die historischen Errungenschaften der EU neu schätzen lernen, meint Christoph Hasselbach.

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Deutsche Welle Christoph Hasselbach (Foto: DW)
Bild: DW/P. Henriksen

Niemand sollte sagen: Es kam, wie es kommen musste. Aber es kam, wie es erwartet worden war. Das nächste Parlament wird politisch noch zersplitterter sein als bisher schon; Extremisten auf der linken und noch mehr auf der rechten Seite ziehen in Garnisonsstärke in Straßburg ein. Bei der Wahlbeteiligung gibt es ein unterschiedliches Bild: In manchen Ländern sind zwar wieder mehr Leute zur Wahl gegangen als früher. Doch diese Stimmen kamen oft gerade den Euroskeptikern zugute. Insgesamt jedenfalls ist das allgemeine Interesse der Bürger an der EU erschreckend niedrig. Dabei haben sich die Parteien wirklich Mühe gegeben, um dem Wahlvolk auf die Sprünge zu helfen. Sie haben erstmals Spitzenkandidaten gekürt, die kreuz und quer durch den Kontinent getourt sind und sich Debatten geliefert haben. Der Wahlkampf sollte personalisiert werden, lebendiger und relevanter. Genützt hat es kaum.

Die Extremisten haben kein Projekt

Das Beruhigende ist: Das Parlament wird trotz der Europafeinde in seinen eigenen Reihen arbeitsfähig bleiben. Die Abgeordneten von UKIP, Front National oder Dänischer Volkspartei werden flammende Reden halten, aber nichts wirklich blockieren können. Dazu sind sie wahrscheinlich untereinander zu verschieden, eben zu national. Auch ist ihre Rhetorik vor allem an ihre Wähler zuhause in ihren jeweiligen Heimatländern gerichtet. Sie wollen eher Stimme der Unzufriedenen sein als ein großes gemeinsames Projekt verwirklichen. Und schließlich werden die in Bedrängnis geratenen europafreundlichen Parteien der Mitte umso enger zusammenrücken. Nein, eine echte Bedrohung werden die Extremisten nicht, jedenfalls nicht im Europaparlament.

Die EU ist mehr als gerade Gurken

Beunruhigend ist vor allem die Apathie unter den Wählern beziehungsweise Nichtwählern, die sich überall in Europa breitgemacht hat. Für eine große Mehrheit sind die beispiellosen Errungenschaften der europäischen Zusammenarbeit offenbar so selbstverständlich geworden, dass sie glauben, das alles werde von ganz allein bis in alle Ewigkeit so bleiben: Frieden, freies Reisen, Studieren und Arbeiten, eine gemeinsame Währung, der Binnenmarkt. Aber diese Errungenschaften sind eben nicht selbstverständlich, sie können auch wieder verlorengehen. Man muss sich für sie einsetzen, immer wieder. Im Wahlkampf hatte man aber zuweilen das Gefühl, die EU bestehe nur aus Glühbirnenverbot oder der schon längst wieder abgeschafften, doch immer wieder neu zitierten Gurkenkrümmungsverordnung.

Schnell verdrängte Schuldenkrise

Wie schnell eine scheinbar unumstößliche Ordnung zerfallen kann, das konnte man vor wenigen Jahren an der Staatsschuldenkrise sehen. Die EU stand am Abgrund. Die Krise wurde inzwischen einigermaßen bewältigt, aber nur durch eine gemeinsame Kraftanstrengung, durch Hilfe und Disziplin. Hätte jedes Land seinen eigenen Weg aus der Krise gesucht, hätten alle verloren, auch die Starken. Liegt das schon wieder zu lange zurück, damit es eine Lehre sein kann? Was in Europa auf dem Spiel steht, sieht man aber auch an der Ukraine-Krise: 25 Jahre nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes laufen wir Gefahr, in einen neuen europäischen Dauerkonflikt zu geraten. Erstaunlicherweise hat das Thema Ukraine im Europawahlkampf aber praktisch keine Rolle gespielt. Dabei ist die EU der beste Anschauungsunterricht dafür, was friedlicher Ausgleich und Zusammenarbeit erreichen können.

Der Blick von außen

Wollen die Kritiker der Integration das alles gefährden? Sie sollten Menschen aus anderen Teilen der Welt fragen, was sie vom europäischen Projekt halten. Bei der letzten Europawahl 2009 traf ich in Brüssel einen Wahlbeobachter aus Afrika. Als die Werte der Wahlbeteiligung von damals - und jetzt auch wieder - von rund 43 Prozent bekannt wurden, schüttelte er nur den Kopf und sagte: "In vielen afrikanischen Ländern wären wir froh, wenn wir überhaupt frei wählen könnten. Und Ihr in Europa werft Euer Recht weg!" Es war eine beschämende Begegnung. Wenn wir in der EU keine anderen Probleme haben, als uns über übertriebene Regulierung aufzuregen, dann geht's uns wirklich gut, vielleicht zu gut, um das Wunder von fast 70 Jahren Frieden und gemeinsamem Wohlstand schätzen zu können.