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Ein schales Gefühl

4. Juni 2010

Nach dem überraschenden Rücktritt von Horst Köhler und der Kandidatenkür durch die großen Parteien bleibt in Berlin das schale Gefühl der Enttäuschung. Die Chance auf Neuanfang wurde verpasst.

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Fernschreiber Berlin (Grafik: DW)
Bild: DW

Es war eine seltsame Berliner Woche voller Überraschungen. Sie begann mit dem Rücktritt des Bundespräsidenten - an sich schon ein unerhörter Vorgang. Horst Köhler, der nur dank CDU und FDP und aus ausschließlich parteitaktischen Erwägungen in das höchste Staatsamt gekommen ist, hat ausgerechnet seine Gönner und Förderer in ihrer schwersten Krise im Stich gelassen. Er hat darüber hinaus aber auch die deutsche Bevölkerung im Stich gelassen, die ihm bis zuletzt mit großer Zuneigung die Treue gehalten hat.

Zwei Kandidaten

Die Woche endete mit der Präsentation von zwei Bundespräsidentenkandidaten und einer gespaltenen politischen Landschaft, mit einer schwer angeschlagenen Arbeitsministerin und dem schalen Gefühl, dass die regierenden Politiker nicht in der Lage sind, selbst in dieser politisch und wirtschaftlich schwierigen Zeit die Parteiinteressen hintanzustellen und die Wünsche der Bevölkerung ernst zunehmen. Es bleibt die Enttäuschung, dass die Chance, die sich mit dem Rücktritt eines zuletzt nicht mehr überzeugend agierenden Bundespräsidenten mitten in der Mega-Krise auch bot, verpasst wurde.

Es wäre eine Gelegenheit gewesen, einen Kandidaten oder eine Kandidatin zu finden, der oder die wirklich die Menschen ansprechen kann. Eine Persönlichkeit, die gerade jetzt, da der Bevölkerung in Deutschland so viel zugemutet und abverlangt wird, Orientierung und Vertrauen geben kann, vielleicht auch ein bisschen Lebensmut und Aufbruchgeist. In dem fröhlichen Lachen von Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen, die offenbar Grund hatte, sich Chancen auszurechnen, blitzte so etwas auf, so ein Funken von Optimismus und Lebensbejahung.

Parteitaktik statt Aufbruch

Doch dann entschieden sich die regierenden Parteien, stattdessen lieber die Interessen der CDU-Landesfürsten, ihrer Gremien und der Bedürfnisse einer zerstrittenen und den Anforderungen der Zeit nicht gewachsenen Koalition zu befriedigen. Die Gefühle und Wünsche der deutschen Bevölkerung, die bei der Auswahl ihres obersten Repräsentanten ja leider nichts mitzureden hat, spielte überhaupt keine Rolle. Es wirkte plötzlich so, als ginge es um einen Ehrenvorsitzenden für die CDU und nicht um das Staatsoberhaupt der größten Wirtschaftsnation Europas.

Und so war die Kandidatensuche dann auch kurz und ohne Esprit. Dabei wären einem genügend Namen von geeigneten Persönlichkeiten eingefallen. Auch aus den Reihen der CDU: Hans-Gerd Pöttering zum Beispiel, der frühere Präsident des Europaparlaments, oder der international anerkannte Klaus Töpfer oder die Frankfurter Oberbürgermeisterin Petra Roth, um nur einige wenige zu nennen.

Kein Schwung, kein Aufbruch, kein Optimismus

Stattdessen wurde ein Kandidat ausgewählt, der über die Landesgrenzen Niedersachsens hinaus kaum bekannt ist, ein Berufspolitiker praktisch von Kindesbeinen an, der sich bisher noch in keiner Debatte mit richtungweisenden Beiträgen zu Wort gemeldet hat. Ein sympathischer Mann, ohne Zweifel, der das Amt möglicherweise auch gut ausfüllen wird, aber doch nur ein Politiker und sonst nichts.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat mit ihrem unglücklichen Agieren nicht nur ihre Vertraute, von der Leyen, vor den Kopf gestoßen und damit eine fähige und sympathische Politikerin in der ganzen Republik lächerlich gemacht, sie hat auch die Chance verpasst, ihrer eigenen unglücklichen Koalition einen überzeugenden Neuaufbruch zu bescheren.

Es war eine aufregende, enttäuschende und traurige Woche in Berlin. Und es ist zu befürchten, dass noch viele solche Wochen kommen, in denen die schwarz-gelbe Koalition sich ohne Schwung und ohne Kreativität durch die dramatischsten Probleme seit der Wiedervereinigung wurschtelt.

Autorin: Bettina Marx
Redaktion: Kay-Alexander Scholz