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Heißestes Thema in Hongkong: die Unabhängigkeit

Hans Spross2. September 2016

Die US-Politologin Victoria Hui hatte 2014 vor dem US-Kongress über die politische Lage in Hongkong berichtet. Jetzt sprach sie mit der DW über die aktuelle Debatte in Hongkong anlässlich der Parlamentswahlen am Sonntag.

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Victoria Hui , Politikwissenschaftlerin an der University of Notre Dame in Indiana, USA (Foto: privat)
Bild: privat

Deutsche Welle: Inwiefern sind diese Wahlen zum Hongkonger Parlament - genauer gesagt zum Legislativrat (Legco) der chinesischen Sonderverwaltungsregion Hongkong - anders als sonst?

Victoria Hui: Bislang konnte man die Wahlen etwas vereinfacht als eine Abstimmung zwischen zwei Lagern beschreiben, nämlich zwischen "pro Peking" beziehungsweise "pro-Establishment" auf der einen und "pro Demokratie" auf der anderen Seite.

Aber seit der Regenschirm-Bewegung von 2014 sind diese neuen Leute auf den Plan getreten, die sich für die Unabhängigkeit Hongkongs einsetzen. Sie akzeptieren keine Tabus mehr und stellen eine neue, dritte, Kraft dar. Diese Leute sagen, dass die traditionellen pro-demokratischen Kräfte Hongkong nach 30 Jahren nichts gebracht hätten. Dazu muss man wissen, dass diese ältere Demokratie-Bewegung, das sogenannte pan-demokratische Lager, in der Zeit der chinesisch-britischen Verhandlungen über die Rückgabe Hongkongs entstanden ist. Und diese neuen Leute fischen nun auch im Wählerreservoir der traditionellen demokratischen Kräfte.

Der Ruf nach Unabhängigkeit kam zum ersten Mal im Zusammenhang mit dem Film "Zehn Jahre" auf. (Der Film gewann im Frühjahr den Hongkonger Filmpreis. Er zeigt in mehreren Episoden ein fiktives Hongkong unter völliger Herrschaft durch China–Red.). Davor hat niemand ernstlich die Unabhängigkeit gefordert, das war höchstens ein Scherzwort. Jetzt ist es das heißeste Thema in Hongkong.

(Hinweis der Red.: Bis zum 30. August wurden sechs Kandidaten bei den Legco-Wahlen wegen ihrer Pro-Unabhängigkeits-Position ausgeschlossen. Aber es gibt eine Reihe von zugelassenen Kandidaten, die dieser Position zumindest sympathisch gegenüberstehen.)

Woher kommt dieser neue radikale Ton in der Hongkonger Demokratiebewegung?

Als ich Ende der 80er Jahre Studentin in Hongkong war, war die Ausgangslage anders. Wenn es in der Gemeinsamen Chinesisch-Britischen Erklärung von 1985 heißt, dass es für 50 Jahre nach der Rückgabe Hongkongs 1997 keinerlei innere Veränderungen geben werde, fühlte sich das sehr weit weg in der Zukunft an. Wir waren zwar misstrauisch, aber dachten: "OK, sollen sie das mal ausprobieren." Aber für die 20- oder 30jährigen von heute sieht das anders aus. Für die ist das Jahr 2047 nicht mehr so weit entfernt. Und die haben jetzt das Gefühl - was ich teile -, dass das Modell "Ein Land, zwei Systeme" kaputt ist.

Studentenaktivist Joshua Wong in Hongkong am 15.08.2016 (Foto: picture alliance/ZUMA Press/Liau Chung)
Joshua Wong, einer der bekanntesten Anführer der Protestbewegung von 2014, hat inszwischen die Gruppierung "Demosisto" gegründet. Sie setzt sich für ein Referendum über die Souveränität Hongkongs ein.Bild: picture alliance/ZUMA Press/Liau Chung Ren

Wieso ist das Modell kaputt? Sind nicht die meisten bürgerlichen Freiheiten in Hongkong gewährleistet?

Sicher, Sie können nach wie vor protestieren, Sie können auf die Straße gehen. Man braucht eine Erlaubnis. Und die wird auch gewährt, allerdings mit schärferen Auflagen als früher. Man sieht auch viel mehr Polizei als früher, zu Fuß und im Auto, die die Leute beobachten, wenn eine Demonstration angekündigt ist. Nur die Justiz ist noch unabhängig, wie sich an dem milden Urteil gegen den Studentenführer Joshua Wong erst vor kurzem gezeigt hat.

Aber die Pressefreiheit ist bedroht. Prominente und weniger prominente Journalisten, die pro-demokratische Kommentare geschrieben haben, wurden gefeuert. Es gab sogar physische Angriffe auf solche Personen. Auch die akademische Freiheit ist bedroht, angesichts der Macht des Hongkonger Regierungschefs, Ausschüsse und Gremien in den Universitäten mit ihm genehmen Leuten zu besetzen, eine Macht, von der der amtierende Regierungschef Leung Chun-ying reichlich Gebrauch gemacht hat. Das sind insgesamt Entwicklungen, die diese Freiheiten in Hongkong stark ausgehöhlt haben.

Was ist mit der Pressefreiheit in Hongkong? Im Westen kennt man vor allem die englischsprachige "South China Morning Post." Deren Berichterstattung über den Wahlkampf scheint sehr ausgewogen zu sein.

Oberflächlich betrachtet gibt es tatsächlich eine breite Meinungsvielfalt, kritische Positionen werden dargestellt. Aber ich weiß von vielen Fällen, wo kritische Mitarbeiter der SCMP herausgedrängt wurden oder von selbst kündigten. Eine mit mir befreundete Reporterin der Zeitung schrieb vor allem über das Festland, und zwar über Menschenrechtsthemen und Jahrestage wie das Tiananmen-Massaker. Sie wurde aufgefordert, ihre Artikel umzuschreiben, oder sie kämen nicht ins Blatt, oder ihr Redakteur schrieb den Artikel gleich selber neu. Schließlich schmiss sie das Handtuch und verließ die Zeitung. Sie sagt, dass es einen großen Unterschied mache, ob man über Hongkong oder über das Festland schreibt, im ersten Fall gibt es noch etwas mehr Freiheit.

Aber die Öffentlichkeit bekommt solche alltäglichen Fälle nicht mit, sondern nur dann, wenn es sich um einen Messerangriff wie 2014 auf den Chefredakteur der "Ming Pao", Kevin Lau, handelt, oder wenn ein anderer prominenter Chefredakteur den Job verliert.

Die beiden chinesisch-sprachigen Publikationen "Ming Pao" und "Hong Kong Economic Journal" haben immer versucht, eine mittlere Position zwischen Pro-Demokratie und Pro-Peking einzunehmen. Trotzdem sind die beiden letzten angesehenen Chefredakteure bei "Ming Pao" abgelöst worden. "Ming Pao" versucht zwar professionell zu erscheinen und Meinungsvielfalt zu bieten. Auch ich konnte dort bislang meine Kommentare veröffentlichen, neuerdings aber großflächig eingerahmt von einem Artikel direkt aus dem Büro der Pekinger Vertretung in Hongkong!

Und dem bekannten Journalisten Joseph Lian Yi-zhen wurde mitgeteilt, dass seine Kolumne im "Hong Kong Economic Journal" nicht mehr gebraucht würde, nachdem er laut darüber nachgedacht hat, ob und wie man die Debatte über eine Unabhängigkeit Hongkongs legal gestalten könnte.

Könnte man nicht sagen, dass Peking - und damit auch die von Peking abhängige Regierung von Hongkong - im Recht ist, wenn es Aufrufe nach Unabhängigkeit unterdrückt?

Es geht um Meinungsfreiheit. Man sollte über alles reden dürfen. Zwischen reden und tun besteht ein Unterschied. Ich halte mich an das, was der Vize-Kanzler der Universität von Hongkong unlängst seinen Studenten sagte: "Bedient euch der Rede- und Meinungsfreiheit, aber haltet euch an das Gesetz und ruft nicht zu Gewalt auf."

Im Übrigen gibt es unterschiedliche Strömungen bei diesen jungen Leuten, die ja alle um ihre Zukunft kämpfen. Einige wie die Gruppen "Scholarism" und "Demosisto" fordern echte Autonomie, nicht Unabhängigkeit, und fordern ein Referendum über die Richtung, die Hongkong nach 2047 einschlagen soll. Das ist ein sehr guter Vorschlag, der auch kein Gesetz verletzt. Denn das Basic Law regelt nur die Geschicke Hongkongs bis zum Jahr 2047. Auch hier kann man natürlich sagen, das sind alles Fantasien, denn auch nach 2047 wird Hongkong zu China gehören, Peking will kein Referendum, usw.

Ich finde es jedenfalls sehr traurig, dass jemand wie Joshua Wong, der zu den oben genannten Gruppen gehört und im zarten Alter von 16 Jahren zum Gesicht der Protestbewegung wurde, von noch radikaleren Kräften inzwischen als passé und als zu gemäßigt abgeschrieben wird.

Pro-Demokratie-Demonstranten in Hongkong am 19. Jahrestag der Rückgabe an China am 1. Juli 2016 (Foto: Reuters/B. Yip)
Trotz Pekings drückendem Einfluss: Das Demonstrationsrecht wird in Hongkong gelebtBild: Reuters/B. Yip

Nun ist ja Hongkong nicht in erster Linie als Labor für politische Experimente bekannt, sondern vor allem als Handels- und Finanzzentrum. Wie ist die Position der Business Community?

Der Unternehmenssektor ist sicher im Großen und Ganzen pro-Establishment und pro-Peking eingestellt. Das ist kein Wunder, denn in China muss man gute Beziehungen haben, wenn man Geschäfte machen will. Also, wer Geld verdienen will, muss für Peking sein.

Aber schauen wir uns die Liberal Party an, die Partei der gut verdienenden Unternehmer und Fachkräfte. Sie sagen: "Wir wollen Peking nicht provozieren, aber wir brauchen auch eine unabhängige Hongkonger Stimme." Und sie sehen auch, dass vieles von dem, was der amtierende und bei großen Teilen der Bevölkerung verhasste Regierungschef, Leung Chun-ying, umgesetzt hat, schädlich für Hongkong ist.

Sogar der reichste Mann Hongkongs, Li Ka-shing, ist teilweise auf Distanz zu Pekings Hongkong-Politik gegangen, obwohl er die Demokratie- und Regenschirm-Bewegung im Prinzip für Unsinn hält. Er hatte nämlich nicht wunschgemäß jenen Beschluss Pekings vom 31. August 2014 über die Wahl des Regierungschefs, der eigentlich der Auslöser für die Protestbewegung war, ausdrücklich gutgeheißen. Für seinen "mangelnden Patriotismus" wurde er von chinesischen Parteimedien scharf angegriffen. Es ist schon deutlich, dass keineswegs alle, die etwas zu investieren haben, alles auf die China-Karte setzen.

Mit welchen Gefühlen betrachten Sie die aktuelle Lage in Hongkong?

Die sind die gleichen wie die meiner Freunde dort: Mit Hongkong geht es bergab. Wenn man nicht eine allerletzte große Anstrengung macht, wird das Hongkong, wie wir es kennen, in 20 Jahren nicht mehr existieren.

Victoria Hui ist in Hongkong aufgewachsen und hat dort unter anderem für den prominenten Abgeordneten der Demokratischen Partei, Martin Lee, gearbeitet. Derzeit ist sie Dozentin für Politologie an der University of Notre Dame in Indiana. Sie schreibt einen Blog über die Hongkonger Demokratiebewegung.