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Versäumnisse türkischer Intellektueller und Literaten

Uli Rothfuss und Achim Martin Wensien, Qantara.de16. September 2005

Bis auf wenige Ausnahmen ist türkische Literatur in Deutschland nahezu unbekannt. Liegt dies an der Funktion von Literatur in der Türkei oder an den verarbeiteten Stoffen?

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Bild: AP

Trotz unbeschränkt vorhandener Möglichkeiten und Freiheiten, fremde Literaturen unter Lesern bekannt zu machen, ist ein Produktions- und Rezeptionsmangel der türkischen Literatur im deutschsprachigen (und nicht nur in diesem westlichen) Raum festzustellen.

Ausgenommen sind dabei Werke von Autoren, die in Deutschland mit Preisen bedacht wurden. So etwa Yasar Kemal, der 1997 mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde. Ansonsten ist die Bedienung eines breiteren Leserinteresses mit türkischer Literatur kaum zu erkennen.

Was ist das, türkische Literatur?

Es ist eine Literatur mit eigener Ästhetik und mit eigenem Gedächtnis, mit Bezug auf literarische Werke, die in der Türkei oder, etwas weiter gesehen, im Migrationsprozess türkischer Migranten entstehen. Aber worin besteht diese eigene Ästhetik und dieses eigene Gedächtnis, die das Rückgrat aller Literatur ausmachen, also auch das der türkischen sein sollten?

Im Vergleich mit der klassischen Weltliteratur erfüllt Literatur in der Türkei nicht die Funktion, Vorbild, Inspirationsquelle oder Wissenschaftsgegenstand zu sein. Hier geht die Literatur fast ausschließlich zwei wesentlichen Funktionen nach - die außerhalb der Türkei wegen der fehlenden Bezugspunkte kaum Interesse finden: die der Identitätspflege und -stiftung und die des Politik-Ersatzes bis hin zur Literatur als ideologischer Waffe, und das alles stets in engem Bezug zur türkischen Gesellschaft gestellt.

An diesen Funktionen hat sich seit dem Beginn der Modernisierungsdiskussion im 19. Jahrhundert über die Ära Kemal Atatürks bis zur Schwelle des EU-Beitritts und der Diskussion darüber kaum etwas geändert. Was also für die Weltliteratur als Ziel ausfindig gemacht werden kann und bereits am Ende der Aufklärung erfüllt wurde, gilt in der Türkei bis heute weitgehend als Selbstzweck.

Das Militär als Hüter des Gedankenguts

Die Ausprägung dieses Denkens und Handelns hat man stark in den Jahren 1960, 1971 und 1980 am Beispiel der Militärinterventionen in die türkische Politik erlebt, die für Künstler und Literaten stets Inhaftierung, Einschränkungen und Publikationsverbote bedeuteten.

Es ist ein Teufelskreis: das Militär führte als Erbe der Hüter des Gedankengutes von Kemal Atatürk und im Namen des Anschlusses an die Modernität Übergriffe aus, wobei schließlich diese angeblichen "Revolutionen" ihre Erfinder verzehrten.

Kaum vorstellbar, dass unter solchen Bedingungen der geistigen Unfreiheit Künstler und Literaten angstfrei und ohne Vorurteile existieren und arbeiten konnten und zum Teil bis heute können. Taten sie es dennoch und blieben dort, neigte man, - am meisten die Zunft der Schreibenden selbst - dazu, diese Zeitgenossen zu mystifizieren.

Solche Biographien wurden geradezu inszeniert: War ein Autor literarisch und ästhetisch nicht kraftvoll genug und wurde auch nicht bekannt, ließ ein märtyriumsverdächtiger Umweg den Bekanntheitsgrad erhöhen, was in der Regel die Medien, aber auch die Verlagsökonomen geschickt einzusetzen wussten und wissen.

Die Folgen sind verheerend. In der Türkei ist eine Literatur entstanden, die kaum selbstreferenzielle Strukturen besitzt. Zum Beispiel gibt es bis heute kaum eine ernst zu nehmende Kritikerzunft, in der auch kaum moralische Regeln existieren, um solche Autoren zu reglementieren, die nicht sachlich agieren.

Galerie Türkei Flagge und Kemal Atatuerk
Eine türkische Fahne und eine Abbildung des Staatsgründers Kemal AtatürkBild: AP

Das Publikationsverhalten im deutschsprachigen Raum

Die wichtigsten Gründe für die geringe Entwicklung und Bekanntheit der türkischen Literatur in Westeuropa und vor allem im deutschsprachigen Raum sind im Denken und Handeln beziehungsweise in den Versäumnissen türkischer Intellektueller und Literaten zu finden. Ästhetisch ist es ihnen viel zu wenig gelungen, lesens- und begehrenswerte Stoffe zu verarbeiten.

Die Leserschaft will von dem Autor einen übertragenen Sinn erfahren, das heißt etwas über sich selbst erfahren, als Leser und Mensch im Menschenbild des Autors, das er in seinen Werken gestaltet. Das kann zwar große Literatur, aber die heutige türkische Literatur kann es nicht einlösen - weil sie von anderen Voraussetzungen der Funktion von Literatur ausgeht.

Was macht Migrationsliteratur lesenswert?

In Deutschland ist schließlich eine Art von Exilliteratur entstanden, die die ästhetischen und inhaltlichen Probleme, welche die türkische Literatur mit sich bringt, ebenfalls zumeist nicht überwunden hat. Was sind wir, wer sind wir? Dies sind noch immer die vorherrschenden Fragen, die in der Migrationsliteratur gestellt werden.

Man wird von der Zukunft einer Migrationsliteratur nur dann sprechen können, wenn sie sich gänzlich in einer "Literatur der Ankunft" auflöst. Es gab und gibt Beispiele, bei denen der Hauptakzent auf der "Betroffenheit" der Autoren durch innere und äußere Ereignisse im Zusammenhang mit der Migration liegt.

Aber Literatur kann nicht auf Dauer von der Betroffenheit existieren, wenn auch ohne "ihre Spuren", unabhängig von der Art und Qualität der Betroffenheit, letztlich kein Gefühl entwickelt und artikuliert werden kann. Aber nur Betroffenheit reicht nicht aus.

Als Stoff der Migrationsliteratur wäre die Entdeckung der bewegenden Momente in der Betroffenheit einer Gesellschaft zu erwarten, eines Gemeinwesens, in dem der Autor sich als Fremder, Außenseiter zu artikulieren weiß. Gefühlsaffinität und -homogenität mit den großen gegenwärtigen Fragen der Gesellschaft und damit der Leserschaft wären ein zuverlässiger Gradmesser für eine "angekommene Migrationsliteratur".