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Verstehen durch Literatur

Ahmet Cemal / bg20. September 2012

Die Lektüre übersetzter Bücher eröffnet Einsichten in andere Lebensentwürfe und Weltbilder, davon ist der Autor und Übersetzer Ahmed Cemal überzeugt. Doch es fehlt an Übersetzungen aus dem Türkischen.

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Symbolbilder Deutschkurse RelaunchBild: Fotolia/arsdigita

Nach dem Abitur am österreichischen St. Georg-Kolleg in Istanbul studierte Ahmet Cemal an der Istanbuler Universität Jura. Anschließend nahm er seine Lehrtätigkeit an der germanistischen Abteilung dieser Universität über die Kunst und Technik des Übersetzens auf. Die Anadolu-Universität in Eskisehir zeichnete ihn mit einem Ehrendoktor-Titel aus, nachdem er sich dort als Lehrbeauftragter über die Themen Ästhetik, Kunst-, Kultur- und Theatergeschichte große Anerkennung verdient hatte. Seine Übersetzungen von Werken weltberühmter Dichter, Denker und Literaten wie Kafka, Rilke, Goethe, Zweig und Nietzsche ins Türkische haben ihm zu internationalem Ruhm verholfen. Als Autor des deutsch-türkischen Kulturtreffpunkts hebt er die Bedeutung von Literatur und Übersetzungen für die kulturellen Beziehungen zwischen beiden Ländern hervor.

Ich bin weder Historiker noch Diplomat. Daher maße ich mir nicht an Ratschläge für die Zukunft der deutsch-türkischen Beziehungen zu erteilen. Andererseits lebe ich aufgrund meiner über 40jährigen Erfahrung als Übersetzer gewissermaßen sowohl in der türkischen wie auch in der deutschen Sprachwelt. Und Sprache ist eine der grundlegenden Säulen jeder Kultur.

Jede Übersetzung eines Buches transportiert Weltanschauungen, Lebensbilder und Ideen in eine andere Sprache. In der Menge entsteht daraus eine kulturelle Beziehung. Die Annäherung zwischen Ländern auf diesem Wege, ist die konkreteste und elementarste Form einer kulturellen Beziehung. Denn eine derartige Verbindung ist nicht allein darauf reduziert, dass Menschen aus zwei Ländern jeweils die Werke aus dem anderen Sprachraum lesen. Jedes literarische Werk, sei es ein Roman, ein Gedicht, oder ein Essay, ist eine Fiktion des Autors. Und jede dieser Fiktionen stellt einen Entwurf des Autors für eine Weltsicht dar.

Prinz Andrejs Sicht auf die Sterne

Eine echte kulturelle Beziehung zwischen zwei Ländern entsteht jedoch nicht dadurch, dass wir einfach ein übersetztes Werk aus einem anderen Kulturkreis lesen. Die Beziehung entsteht erst, wenn wir die Weltsicht des Autoren durch unsere eigne kulturell geprägte Weltsicht filtern und uns dadurch eine neue Sichtweise eröffnet wird.

Der Krieg wurde schon vor Tolstoi von vielen Autoren behandelt. Doch in "Krieg und Frieden" gibt es beispielsweise eine Szene, in der wir als Leser eine sternenklare Nacht mit den Augen des nach der Schlacht von Austerlitz schwerverletzten Prinz Andrej betrachten. Durch das Wissen um die Erlebnisse und Empfindungen des Prinzen in dieser Szene erweitert sich unsere Vorstellung über den Krieg um eine weitere Dimension. Sobald wir danach mal an den Krieg denken, steht uns dieses Bild als neue zusätzliche Assoziation zur Verfügung. Besonders bereichernd ist dieser neue Blickwinkel, wenn er aus einem anderen Kulturkreis kommt.

Auch bei Johann Wolfang von Goethe findet sich ein gutes Beispiel. Dessen unvollendetes Epos "Achilles" ist ein eng mit Homers "Ilias" verwandtes Werk. Die Übersetzung von Goethes "Achilles" ins Türkische, bietet uns eine alternative Interpretation der Troja-Sage, als die uns Türken bekannte Übersetzung der "Ilias" aus dem Altgriechischen durch Azra Erhat und A. Kadir. Die neue Sichtweise auf die Sage um Troja erreicht uns auf dem Umweg des deutschen kulturellen Filters.

Johann Wolfgang von Goethe
Johann Wolfgang von GoetheBild: ullstein bild - Roger Viollet

Eine kulturelle Beziehung beruht auf Gegenseitigkeit

Es gibt viele ähnliche Beispiele, denn es wird oft aus dem Deutschen ins Türkische übersetzt. Besonders das Jahr 1940 war für die Bedeutung der deutschen Sprache in der Türkei sehr wichtig. Damals richtete das türkische Bildungsministerium ein Übersetzungsbüro ein und gab eine monatlich erscheinende "Übersetzungszeitschrift" heraus. Durch die Arbeit dieses Büros und der Zeitschrift wurden viele klassische Werke der deutschen Literatur für den türkischen Kulturkreis gewonnen. Unter den übersetzten Autoren waren Schiller, Kleist, Hölderlin, Goethe, Novalis, und viele andere.

Doch eine kulturelle Beziehung zwischen zwei Ländern wird erst dann tragfähig, wenn sie höhere Ebene erreicht. Eine Ebene, auf der die Informationen und Sichtweisen des jeweils anderen Kulturkreises bewusst aufgenommen und verinnerlicht werden. In wie weit finden beispielsweise die Übersetzungen deutscher Werke in der türkischen Gesellschaft und ihrer Lesekultur Verbreitung? Inwiefern hatten oder haben sie Einfluss auf das Weltbild der türkischen Leser? Mit diesen Fragen setzt sich die Rezeptionsästhetik in den westlichen Ländern und insbesondere in Deutschland intensiv auseinander. Leider befindet sich dieser Wissenschaftszweig noch in den Kinderschuhen.

Aber wie sieht es mit der Gegenseitigkeit der kulturellen Beziehung aus? Wie steht es um die Übersetzungen türkischer Literatur in die deutsche Sprache? Gibt es ein quantitatives Gleichgewicht der Gegenseitigkeit? Diese Frage ist von großer Bedeutung für die Bewertung der deutsch-türkischen kulturellen Beziehung, denn wenn die Antwort negativ ausfällt, dann können wir für den Bereich der Literatur nur von einer Einbahnstraße vom Deutschen ins Türkische sprechen.