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Verspielen die Fünf Weisen ihren Ruf?

Rolf Wenkel19. November 2001

Die Globalisierung macht verlässliche Prognosen für nationale Wirtschaften immer schwieriger - ein Blick über den Tellerrand wäre nötig

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Seit 35 Jahren gibt es in Deutschland eine Institution, die sich einen enormen Ruf erworben hat: Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, im Volksmund die Fünf Weisen genannt. Die Regierung beruft fünf Wirtschaftsprofessoren in dieses Gremium, das den geseztlichen Auftrag hat, periodisch ein Gutachten über die wirtschaftliche Lage und deren absehbare Entwicklung vorzulegen. Das Gremium ist unabhängig, und oft genug hat es in der Vergangenheit der jeweiligen Regierung die wirtschaftspolitischen Leviten gelesen. Die Fünf Weisen lassen sich in ihrem Urteil nur von ihrem Sachverstand leiten - dieser Umstand sowie und ihre sorgfältigen Prognosen haben zu ihrem Ruf beigetragen.

Arg daneben gehauen

Doch in diesem Herbst muss man sich allen Ernstes fragen, ob die Fünf Weisen ihren Ruf zu recht haben. Nicht etwa, weil sie der Regierung die falschen Rezepte vorschlagen würden. Nicht etwa, weil sie entgegen dem Rat der deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute trotz heraufziehender Wirtschaftskrise weiterhin eine Politik der ruhigen Hand favorisieren. Und nicht etwa, weil sie seit Jahren immer wieder dasselbe schreiben: runter mit der Abgabenlast, weg mit der Überregulierung am Arbeitsmarkt, weg mit allen Wachstumsbremsen.

Nein, diese Rezepte werden nicht falsch dadurch, dass man sie ständig wiederholt. Dennoch ist die Glaubwürdigkeit der fünf Weisen diesmal stark angekratzt. Denn wie ernst kann man ein Gremium noch nehmen, dem es gelingt, die eigene Wachstumsprognose um den Faktor vier zu verfehlen? Im Herbst des vergangenen Jahres glaubten die fünf Sachverständigen noch, die deutsche Wirtschaft werde in desem Jahr um 2,8 Prozent wachsen. So arg daneben gehauen hat das Gremium schon lange nicht mehr. Denn heute ist klar, dass die deutsche Wirtschaft in diesem Jahr nicht einmal ein Viertel dieses Zuwachses erreichen wird und froh sein kann, wenn die Summe aller wirtschaftlichen Leistungen um 0,6 Prozent zunimmt.

Datenberge wachsen, das Wissen schrumpft

"Ach dass der Mensch so häufig irrt, und nie recht weiss, was kommen wird", kalauerte schon der deutsche Volksdicher Wilhelm Busch. Mit anderen Worten, Prognosen sind immer unsicher, damit muss man leben. Aber ist es nicht merkwürdig, dass ausgerechnet im Informationszeitalter fast alle Prognosen das Papier nicht wert sind, auf dem sie gedruckt wurden? Ist es nicht merkwürdig, dass die Datenberge wachsen, das Wissen aber zu schrumpfen scheint? Die Informationsgesellschaft produziert pausenlos Milliarden von Daten, Fakten, Analysen - trotzdem gelingt es immer seltener, Tempo und Richtung der wirtschaftlichen Entwicklung vorherzusagen.

Es scheint, als hätten die Ökonomen aus einem Phänomen, das sie selbst sehr präzise bescheiben, nämlich die Globalisierung der Wirtschaft, noch nicht die nötigen Konsequenzen für ihr eigenes Instrumentarium abgeleitet. Ökonomische Modelle funktionieren in der Theorie gut, wenn man eine abgeschlossene Volkswirtschaft betrachtet oder bestenfalls den Idealfall zweier komplementärer Volkswirtschaften - aber die Globalisierung hat andere Fakten geschaffen. Früher wurde eine Volkswirtschaft in Europa kaum tangiert, wenn in Japan eine Seifenblase platzte, in Hongkong die Börse krachte, im fernen Mexiko der Peso weich wurde. Heute dagegen sorgen die viel enger miteinander verflochtenen Märkte dafür, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings auf den Philippinen einen Wirbelsturm in Alaska auslöst.

Hilfe von den Chaosforschern?

Prognosen entstehen durch die Verlängerung der gegenwärtigen Entwicklung in die Zukunft. So werden sie gerade dann falsch, wenn man sie am nötigsten braucht - in unruhigen Zeiten wie diesen. Die Wirtschaftswissenschaftler scheinen noch nicht das richtige Instrumentarium für diese Entwicklung zu haben. Vielleicht sollten sie mal bei ihren Kollegen, den Chaosforschern vorbeischauen. Der Sachverständigenrat jedenfalls trifft sich ein paar Mal im Jahr zu einer Sitzung, ansonsten unterhält er ein kleines Sekretariat beim Statistischen Bundesamt, dort, wo alte, aber amtliche Zahlen erhoben werden, vornehmlich für die eigene, nationale Volkswirtschaft. Doch je weiter die Globalisierung voranschreitet, die Verflechtung von Volkswirtschaften und die Bildung von supranationalen Konzernen zunimmt, desto weniger scheint diese Arbeitsweise für die Abschätzung künftiger Entwicklungen geeignet zu sein. Es wird Zeit, mehr über den Tellerrand hinaus zu schauen.