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Verpasste Chancen

Thomas Bärthlein31. Mai 2002

"Neue Zeiten, neue Chancen" - so der Titel des DGB-Bundeskongresses in Berlin. Die Gewerkschaften aber sind dabei, wieder einmal eine Chance zu verspielen. Ein Kommentar von Thomas Bärthlein.

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Was ist nicht alles geschrieben worden in den vergangenen Tagen: Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) soll wieder Profil zeigen. Linkes Profil. Sich nicht länger von den Arbeitgebern in die Defensive drängen lassen. Er soll sich wehren gegen die liberalen Zeitgeist-Parolen, die Einschnitte ins enge soziale Netz in Deutschland fordern, Flexibilisierung des Arbeitsmarkts und am besten auch das Ende des Flächen-Tarifvertrags.

"Die dritte Volkspartei" titelte die "Süddeutsche Zeitung" sogar - der DGB links von CDU und auch links von der Schröder-SPD.

Soweit also die Vision. Auf dem Bundeskongress in Berlin sieht das alles ganz anders aus. Da spricht der Kanzler und schart alle hinter sich. Mit dem einfachen Argument: Wenn "die anderen", wenn also Union (CDU) und FDP dran wären, dann wäre alles noch viel schlimmer.

Die Gewerkschaften schlucken das, weil sie Pragmatiker sind und Angst vor der eigenen Courage haben.

Für eine überzeugende politische Alternative fehlt dem DGB schon die überzeugende Führungspersönlichkeit. Michael Sommer, der neue Vorsitzende, wirkt farblos und unsicher. Dem DGB fehlt das "moderne" Gesicht mancher Einzelgewerkschaften, wie es zum Beispiel der Chef
der Dienstleistungs-Gewerkschaft verdi, Frank Bsirske, verkörpert. Der spricht Defizite der Gewerkschaften auch mal offen an. Der wendet sich neuen Themen zu: Wie können die Gewerkschaften Software-Spezialisten organisieren oder Freiberufler?

Nein, der DGB zeigt in Berlin überhaupt kein Profil. Er stellt sich so dar wie seit Jahren, und deswegen werden den Gewerkschaften auch weiter die Mitglieder davonlaufen: Der DGB will Besitzstände wahren. Und lehnt daher fast alle Reform-Vorschläge für den Arbeitsmarkt rundweg ab: Keine Niedriglöhne, Hände weg vom Kündigungs-Schutz und
vom Flächentarifvertrag.

Das alles ist defensiv und das Gegenteil der angestrebten
"Meinungsführerschaft". Die Diskussionen auf dem Bundeskongress sind wenig inspirierend. Warum nutzt man so eine Gelegenheit nicht, um neue Themen und Probleme in die gewerkschaftliche Debatte und die Öffentlichkeit zu tragen? Zum Beispiel ausführlich über die Globalisierung und ihre Folgen zu sprechen, die doch die Ursache ist
für die Schwierigkeiten der Arbeiterbewegung weltweit. Die
Gewerkschaften haben überhaupt keine klare Position dazu - warum denn nicht?

Vermutlich, weil den Funktionären eine bestimmte Zahl vor dem Komma beim Tarifabschluss wichtiger ist als eine politische Vision. In den Einzelgewerkschaften, auch in vielen Betrieben, sind Gewerkschafter ja durchaus in der Lage, flexibel, konstruktiv und zukunftsorientiert am Umbau der deutschen Wirtschaft mitzuarbeiten.

Aber das reicht nicht aus, wenn sie den Dachverband DGB nicht ernst nehmen, und wenn der nur dazu da ist, gelegentlich Streit zwischen den Einzelgewerkschaften zu schlichten. Für eine eigenständige, attraktive politische Kraft ist das einfach zu wenig.