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Vergessene Wurzeln

Thomas Kruchem (np)5. März 2009

Im südlichen Afrika sind die Kulturen jagender und sammelnder Buschmänner und nomadisierender Viehzüchter fast völlig verschwunden. „Wo ist die Tradition geblieben?“ fragen Bewohner eines Nama-Dorfs am Orange River.

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Blick über die Schotterstraße in einem kleinen Dorf
Dämmerung im Bergdorf RiemvaatsmakBild: DW / Thomas Kruchem

Unterhalb der „Augrabies“-Fälle am Orange River hat sich Sicelo Mtikitiki, ein junger Xhosa aus dem Osten Südafrikas, eine Hütte aus Strohballen gebaut. Sicelo malt gern, schreibt und liebt die Einsamkeit, fährt aber doch mit dem Besucher eine halsbrecherische Geröllsstraße hinauf zum Dorf Riemvaatsmak.

Dort, wo zwischen bunt bemalten Beton- und Wellblechhütten Ziegen grasen, feiert man gerade Hochzeit. Männer in schwarzer Hose und weißem Hemd; Frauen in Kleid, Pullover und Kopftuch tanzen – begleitet von Gitarre und Akkordeon.

Rituale der Reife

Die Bewohner von Riemvaatsmak zählen sich zu den Nama, einem Volk der Vieh züchtenden Koi-Nomaden. Tatsächlich sind die Nama hier längst Angehörige aller Rassen; einige wirken wie Weiße. Dies Durcheinander rühre daher, dass niemand mehr nach der Tradition lebe, sagt in ihrem einfach möblierten, aber liebevoll mit Nippes geschmückten Wohnzimmer „Ouma“ Katrina Adams – eine verhutzelte, uralte Frau mit wachem Blick unter dem leuchtend blauen Kopftuch. Viele Mädchen, sagt Katrina, wissen nicht einmal mehr, wer der Vater ihres Kindes ist. Das sei früher ganz anders gewesen.

Porträt einer alten, afrikanischen Frau
„Ouma“ Katrina Adams schimpft auf die junge GenerationBild: DW / Thomas Kruchem

“Früher bauten wir einem Mädchen, wenn es zu menstruieren begann, eine eigene Hütte“, erzählt Katrina. „Wir rieben den Körper des Mädchens mit dem Staub eines zerstoßenen weißen Steins ein; dann zog es sich für 14 Tage in die Hütte zurück, hatte Kontakt nur zu einer Tante oder Schwester, die ihm Essen, Trinken und Wasser zum Waschen brachte.“ Am 14. Tag schließlich gab es ein großes Fest. „Und der Mann, der das Mädchen heiraten sollte, tanzte es aus der Schar der anderen Mädchen heraus.“

Von den Buren vertrieben

Immerhin weiß „Ouma“ Katrina noch, wie die Nama Musik machten „in die out deit“, in den alten Tagen und wie sie Schilfhalmen vom Ufer des Orange River vielfältige Schnalz-und Flötenklänge entlockten. Heute spielt keiner hier mehr die alte Musik, kaum einer spricht noch die Sprache der Nama. Daran seien die Weißen schuld, sagt der alte Niklas Adams, der kerzengerade auf seinem Stuhl sitzt; die Weißen, die nomadisierende Nama einst in Dörfer zwangen und sie dann aus den Dörfern wieder vertrieben.

Seit 1932, seit seiner Geburt, habe er in Riemvaatsmak gelebt, berichtet „Oupa“ Niklas. „Aber dann kam eines Tages der burische Soldat Geerd Jordan und sagte, wir müssten diesen Ort verlassen. Ich werde nie den Tag vergessen, als er uns zusammenrief und sagte: ‚Ihr müsst gehen. Selbst, wenn Gott heute von jenem Berg dort herunter steigt, müsst ihr gehen.‘“

„Der Fluss ist eine Mutter für uns“

Von 1973 bis 1994 lebten „Ouma“ Katrina, „Oupa“ Niklas und ihre Nachbarn in der Wüste Namibias. Erst Nelson Mandela verhalf ihnen zurück nach Riemvaatsmak, in ihr Dorf über dem geliebten Fluss. „Dieser Fluss, der Oranje Rivier, ist eine Mutter für uns“, sagt Katrina. „Gott hat uns diesen Fluss gegeben. Mit seinem Wasser bauen wir Mais an – und die Weißen am anderen Ufer Trauben. Wir können für die Weißen arbeiten, verdienen Geld, mit dem wir Essen und Kleider kaufen. Mit dem Fluss zeigt uns Gott, dass er uns liebt.“

Ein junger afrikanischer Mann liest auf seinem Bett in einer Hütte
Einsiedler Xhosa Sicelo Mtikitiki ist glücklich in seinem Strohballen-RefugiumBild: DW / Thomas Kruchem

„Ja, der Fluss ist eine Mutter für uns“, sagt Sicelo später, in seiner Hütte aus Strohballen. Für ihn und seine Nama-Freunde besitzt der Orange River eine eigene Persönlichkeit, die der Mensch respektieren muss. „Wenn jemand im Fluss versinkt, soll man nicht um ihn weinen. Man soll nicht heulen: ‚Oh, wir haben diesen Menschen verloren‘, sagt Sicelo. „So viele Leute hier versinken im Fluss; und nach 15 Tagen werden sie gefunden – tot, weil ihre Angehörigen zu viele Tränen um sie vergossen haben.“

„Die Menschen respektieren, zum Beispiel, nicht“, klagt der junge Xhosa, „dass, wer im Fluss versinkt, wieder kommen kann. Und er wird fähig sein, andere von ihren Krankheiten zu heilen.“ Respektlos raubten die Menschen dem Fluss auch seine Diamanten, ohne ihm dafür etwas zurückzugeben. „Und sie werfen Dinge in den Fluss, die dort nicht hin gehören. Sie betrinken sich am Fluss, machen Feuer, johlen, stoßen einander in den Fluss, versinken – und sterben.“