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Verfassungsgericht verhandelt über Neuwahlen

9. August 2005

Vor dem Bundesverfassungsgericht hat die Verhandlung über die Auflösung des Bundestags begonnen. Das Gericht sieht sich vor eine Grundsatzfrage des politischen Systems gestellt.

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Die Kläger: Jelena Hoffmann und Werner SchulzBild: AP
Bundesverfassungsgericht Die Richter des Zweiten Senats des Bundesverfassungerichts
Die Richter des Zweiten Senats des Bundesverfassungerichts, von links, Michael Gerhardt, Rudolf Mellinghoff, Siegfried Bross, Udo di Fabio, Winfried Hassemer (Vorsitzender), Hans Joachim Jentsch, Lerke Osterloh und Gertrude Luebbe-Wolff zu Beginn der Sitzung am Dienstag ( 9.8 2005)Bild: AP

In der mündlichen Verhandlung über die Verfassungsklage zweier Bundestagsabgeordneter gegen die vorgezogene Wahl, die am Dienstag (9.8.2005) begann, wurde der Verfassungsrichter Udo Di Fabio grundsätzlich: Das Verfahren werfe die Frage auf, wer das führende Verfassungsorgan sei: "Parlaments- oder Kanzlerdemokratie?" Stehe das Parlament im Zentrum, so dass sich der Kanzler stetig durch Kompromisse um eine Mehrheit bemühen müsse? Oder könne er von den Abgeordneten, die ihn wählten, eine Mehrheit für seine Politik erwarten? "Man könnte pointiert sagen: Wer führt die Republik?", beschrieb Di Fabio, der zuständige Berichterstatter des Zweiten Senats, die Grundsatzfrage hinter dem Verfahren um die Auflösung des Bundestags.

Horst Köhler
Bundespräsident Horst Köhler bei seiner Fernsehansprache, in der er am 21. Juli seine Entscheidung die Parlamentsauflösung bekannt gabBild: AP

Ein einfaches Recht auf Selbstauflösung des Bundestages mit Hilfe der im Grundgesetz-Artikel 68 vorgesehenen Abläufe "kann nicht gemeint sein nach den Erfahrungen von Weimar", sagte der Vorsitzende des zuständigen Zweiten Senats, Winfried Hassemer, zum Auftakt der mündlichen Verhandlung in Karlsruhe. Hassemer machte aber auch deutlich, dass die Auflösung des Bundestages verfassungsgemäß sei, wenn der Bundeskanzler "nicht mehr über das stetige Vertrauen des Parlaments" verfüge.

"Erhebliche Zweifel"

In der Verhandlung wurden kontroverse Positionen in Reihen des Gerichts deutlich. Nach den Worten von Di Fabio ist die Einschätzung von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD), er habe keine gesicherte Mehrheit mehr, vom Zweiten Senat nur schwer überprüfbar: "Soll das Gericht in eine Beweisaufnahme eintreten?", fragte Di Fabio. Sein Kollege Hans-Joachim Jentsch äußerte große Skepsis an der öffentlichen Begründung von Bundespräsident Horst Köhler für die Bundestagsauflösung: "Wenn das die Gründe sind, die den Bundespräsidenten bewogen haben, die Einschätzung des Bundeskanzlers hinzunehmen, hätte ich erhebliche Bedenken." Mit knapper Mehrheit zu regieren, sei "das übliche politische Geschäft".

"Mehrheit steht wie eine Eiche"

Symbolbild Bundestagswahl Kalender
Bleibt es bei dem Wahltermin am 18. September?Bild: dpa - Bildfunk

Das Gericht ließ sich die Argumente der beiden Abgeordneten vortragen, die gegen die Auflösung des Bundestags geklagt hatten. Jelena Hoffmann (SPD) und Werner Schulz (Grüne) erläuterten ihre Rechtsauffassung, wonach Bundespräsident Horst Köhler den Bundestag nicht hätte auflösen dürfen, nachdem der Bundestag Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) am 1. Juli aufgrund vorheriger Absprachen nicht das Vertrauen ausgesprochen hatte. Hoffmann sagte, Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) habe trotz der gezielt verlorenen Vertrauensfrage weiterhin eine Mehrheit. "Die Koalitionsmehrheit steht wie eine deutsche Eiche", sagte sie. Schröder dürfe sich nicht nur auf ein "gefühltes Misstrauen" berufen, um Neuwahlen zu erreichen. Schulz verwies, wie bei seiner Rede im Bundestag zur Vertrauensfrage, auf seine Erfahrungen mit dem DDR-Regime, die ihn besonders empfindlich machten für einen Missbrauch von Macht. Er warf Schröder vor, mit seinem Vorgehen gegen das Grundgesetz und seine Rechte als frei gewählter Abgeordneter zu verstoßen.

"Schröder hat keine Vorteile"

Vertrauensfrage Bundestag Bundeskanzler
Bundeskanzler Gerhard Schröder begründet am 1. Juli vor dem Bundestag die VertrauensfrageBild: AP

Der Staatssekretär im Bundespräsidialamt, Michael Jansen, verteidigte als Vertreter Köhlers die Entscheidung zur Auflösung des Bundestags. Köhler sei überzeugt, dass sich Schröder durch die Auflösung keine Vorteile bei der vorgezogenen Neuwahl verschaffe. Dabei habe das Ergebnis der Abstimmung über die Vertrauensfrage im Bundestag eine Rolle gespielt. Er sei sich sicher, dass mit seiner Entscheidung eine missbräuchliche vorzeitige Auflösung des Bundestags aus rein machtpolitischen Gründen auch in Zukunft nicht erleichert werde.

Innenminister Otto Schily (SPD) verteidigte als Vertreter der Bundesregierung Schröders Vorgehen. Seiner Einschätzung, dass er nach der von der SPD verlorenen Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im Mai seiner Mehrheit nicht mehr sicher sein könne, könne man keine plausiblere Auffassung entgegen stellen. Damit seien die Voraussetzungen für die Auflösung des Bundestags erfüllt, wie sie vom Gericht in seinem Urteil 1983 aufgestellt worden seien. "Die Beibehaltung dieser Linie durch das hohe Gericht ist das Anliegen der Bundesregierung." Er wies darauf hin, dass das Gericht selbst seine Zuständigkeit in dieser Frage auf eine Missbrauchskontrolle beschränkt habe.

Vertrauensfrage nur bei "echten" Krisen

Vertrauensfrage Helmut Kohl
Die Vertrauensfrage vom damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl 1982 gilt als PräzendenzfallBild: AP

In dem Streit um vorgezogene Neuwahlen spielt ein 22 Jahre altes Urteil desselben Senats eine wichtige Rolle: Nachdem der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl 1982 die Vertrauensfrage gezielt verloren hatte, wurde dies vom Gericht gebilligt. Die Verfassungsrichter stellten aber für künftige Vertrauensfragen strenge Maßstäbe auf. In ihrem Urteil betonten die Richter zunächst, dass die Vertrauensfrage nur in einer "echten" Krise erlaubt ist. Verfassungswidrig sei es dagegen, die Vertrauensfrage bei ausreichenden Mehrheiten zu stellen, nur um Neuwahlen einzuleiten. Seinen eigenen Prüfauftrag schränkte der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts damals ein. Das Grundgesetz habe den drei Verfassungsorganen Bundespräsident, Bundeskanzler und Bundestag Einschätzungsspielräume eingeräumt und vertraue dabei auf die gegenseitige politische Kontrolle und den Ausgleich zwischen den Beteiligten. Das Gericht könne deshalb deren Ermessensentscheidungen nicht im selben Umfang überprüfen wie etwa einen Gesetzesverstoß. (stu)