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Politik

Uslucan: "Ankara muss Beziehungen zur EU stabilisieren"

18. April 2017

Das Ergebnis des türkischen Verfassungsreferendums wird in Europa kritisch gesehen. Der Türkei-Experte Hacı-Halil Uslucan meint, die europäischen Politiker sollten einen EU-Beitritt Ankaras trotzdem nicht ausschließen.

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Türkei AKP mit Flaggen am Flughafen Ataturk
Bild: Getty Images/M. Ozer

Deutsche Welle: Die Ja-Sager konnten beim Verfassungsreferendum in der Türkei eine knappe Mehrheit erringen. Wie bewerten Sie das Ergebnis der Volksbefragung?

Hacı-Halil Uslucan: In der Tat hat das Ja-Lager gewonnen, auch wenn das Ergebnis knapp ist. Jedoch muss das Ergebnis vor dem Hintergrund, dass das Referendum unter ungünstigen, ungleichen und unfairen Bedingungen abgelaufen ist, für die Regierung ein Denkzettel sein. Es gibt einen substantiellen Widerstand gegen diese Verfassung. Wenn man eine Verfassungsänderung durchsetzen will, ist das nicht wie bei einer Parlamentswahl, bei der nur zählt, ob man die Mehrheit hat oder nicht. Eine Verfassung sollte einen deutlich größeren Konsens als nur "50 plus 1" haben.

Wie sehen Sie die bisher berichteten Unregelmäßigkeiten beim Referendum?

Wenn bis zu zwei Prozent Stimmen für ungültig erklärt werden, dann betrachtet man das als normal, was bei vielen Wahlen vorkommt. Manchmal setzen die Leute das Kreuz falsch oder den Stempel nicht genau in das Feld, manchmal schreiben sie etwas hinzu. Aber wenn es stimmt, dass zwei bis 2,5 Millionen Stimmen manipuliert worden sind, dann ist das in der Tat ein großer Skandal. Denn das würde die Mehrheitsverhältnisse kippen.

Die türkische Gesellschaft wird nach dem Referendum als "tief gespalten" beschrieben. Was meinen Sie dazu?

Direktor Türkeistudien Essen
Hacı-Halil UslucanBild: Zentrum für Türkeistudien Essen

Diese Spaltung besteht in der Tat. Die Gesellschaft ist deutlich politisiert worden. Politik hat möglicherweise im Alltag der Menschen lange nicht die Bedeutung gehabt, die sie jetzt durch die offizielle Politik bekommt. Sie macht plötzlich Menschen zu Feinden und Gegnern, die lange friedlich im selben Haus oder möglicherweise auch in derselben Wohnung sowie in ein und derselben Familie zusammengelebt haben. Politik ist nur ein Teil des sozialen Lebens. Es darf nicht sein, dass unterschiedliche politische Meinungen die Lebenswelten von Menschen langfristig trennen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat von Präsident Erdoğan einen "respektvollen Dialog" mit der Opposition gefordert. Kurz nach dem Referendum war von Erdoğan erneut zu hören, er wolle die Todesstrafe wieder einführen. Wie sehen Sie vor diesem Hintergrund die Zukunft der deutsch-türkischen Beziehungen?

Meiner Meinung nach ist das eher Bluff. Möglicherweise wird Erdoğan erneut ein Referendum abhalten, weil es Stimmen gibt, die das fordern. Um sie nicht zu verprellen, wird er ein weiteres Referendum anstrengen, aber es nicht so stark bewerben wie das jetzige. Möglicherweise wird dann eher ein "Nein" herauskommen, das er dann sehr gut benutzen kann. Er hat gesagt, er höre auf die Meinung des Volkes, egal ob es "Ja" oder "Nein" sagt. Ein "Nein" wäre ihm genehm, um auch die Beziehungen zu Europa beziehungsweise den Dialog mit der EU aufrecht zu halten und die Beitrittsverhandlungen nicht ganz zu gefährden.

Hochrangige europäische Politiker haben nach dem Referendum erklärt, nach diesem Ergebnis stehe nun endgültig fest, dass die Türkei der EU nicht beitreten dürfe. Was halten Sie davon?

Man sollte nie "nie" sagen, in dem Sinne, ohne zu wissen, welche Veränderungsmöglichkeiten in der AKP bestehen oder wie sich auch Erdoğan ändern wird. Das finde ich auch politisch unklug, da die Türkei ein wichtiges Land ist. Man verkennt hier: Es geht nicht nur um politische Beziehungen, sondern geht es um auch ganz starke wirtschaftliche Beziehungen. Über 7000 deutsche Firmen sind zurzeit in der Türkei tätig.

Welche Zukunft liegt aus Ihrer Sicht nun vor der Türkei?

Die erste Zeit wird in der Tat angespannt sein. Die Türkei muss im eigenen Interesse versuchen, die Beziehungen zu Europa und auch die Rhetorik gegenüber Deutschland und Holland wieder zu stabilisieren, beziehungsweise sie wieder zurückschrauben in die Zeit vor dem Wahlkampf und versöhnliche Töne anschlagen. Das sind wichtige Länder. Die Abhängigkeit der türkischen Wirtschaft von der europäischen ist stärker als umgekehrt. Der Nationalstolz beziehungsweise diese Selbstzentriertheit, und zwar "Nur die Türkei, wir Türken, gegen den Rest der Welt" ist eine irrationale Politik. Das ist eine Politik, die auf lange Sicht nur zu Selbstisolation führt. Genauso irrational sind die Alternativen, die manchmal vorgegaukelt werden, wonach man sich auch mit den arabischen Staaten oder mit Turkvölkern verbünden könne. Das sind für die Türkei keine attraktiven Wirtschaftsräume, während die EU ein Wirtschaftsraum mit einer Bevölkerung von 550 Millionen Menschen ist. Die turksprachigen Länder haben hingegen insgesamt 85 Millionen Menschen. Sie sind überhaupt nicht auf dem Niveau der türkischen Wirtschaft. Von daher gibt es rational betrachtet keine Alternative für die Türkei, als enger mit Europa zusammenzuarbeiten.

Prof. Dr. Hacı-Halil Uslucan ist ein deutscher Psychologe und Migrationsforscher. Seit 2010 ist er wissenschaftlicher Leiter des Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung an der Universität Duisburg-Essen. Zudem ist er seit 2015 Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Bundeszentrale für politische Bildung.

Das Gespräch führte Burak Ünveren.

DW Mitarbeiter l Burak Ünveren, DW-Journalist
Burak Ünveren Redakteur. Themenschwerpunkte: Türkische Außenpolitik, Deutsch-Türkische Beziehungen.