Afghanistan: Abzug aus dem Krieg
30. Juni 2021Joe Biden zog am 14. April 2021 einen Schlussstrich unter Amerikas längsten Krieg:
"Ich bin inzwischen der vierte US-Präsident, der die amerikanische Truppenpräsenz in Afghanistan zu verantworten hat: zwei Republikaner, zwei Demokraten. Ich werde die Verantwortung nicht an einen fünften weitergeben."
Biden hielt seine Ansprache im Treaty Room des Weißen Hauses. Im gleichen Zimmer hatte George W. Bush am 7. Oktober 2001 den US-geführten Angriff auf Afghanistan verkündet:
"Auf meinen Befehl hin hat das Militär der Vereinigten Staaten von Amerika mit Angriffen auf Ausbildungslager der Terroristen von Al-Kaida und militärische Einrichtungen des Taliban-Regimes in Afghanistan begonnen. Diese sorgfältigen, gezielten Aktionen sollen unterbinden, dass Terroristen Afghanistan als Operationsbasis benutzen, und sie sollen die militärischen Fähigkeiten des Taliban-Regimes treffen."
Zwischen diesen beiden Aussagen liegen 20 Jahre Wiederaufbau, Krieg und Terror.
Warum griffen die USA und ihre Verbündeten Afghanistan an?
Am Anfang stand die Vergeltung. Die USA machten den damaligen Al-Kaida-Führer Osama bin Laden für die Anschläge vom 11. September 2001 auf New York und Washington verantwortlich, durch die 2977 Menschen getötet wurden.
Bin Laden und sein Al-Kaida Netzwerk waren Gäste und Verbündete des fundamentalistischen Taliban-Regimes, das seit 1996 über Afghanistan herrschte.
Die westliche Verteidigungsallianz NATO rief nur einen Tag nach den Anschlägen in den USA zum ersten Mal in ihrer Geschichte den Bündnisfall aus. Danach ist ein Angriff auf ein Mitgliedsland ein Angriff auf alle Mitglieder.
Am selben Tag verabschiedete der UN-Sicherheitsrat die Resolution 1368. Sie verurteilte den Terror von New York und Washington und bekräftigte das Recht auf individuelle oder kollektive Selbstverteidigung. Am 7. Oktober 2001 flogen die USA und Großbritannien die ersten Luftangriffe auf Afghanistan.
Warum blieben die US-geführten NATO-Truppen zwei Jahrzehnte im Land?
Darauf gibt es keine einfache Antwort. Wichtigstes US-amerikanisches Ziel war die Jagd auf Osama bin Laden und Al-Kaida. Doch ein klares Ausstiegsszenario gab es zu keinem Zeitpunkt.
Die Truppen blieben, als die USA 2003 einen weiteren Krieg im Irak begannen. Und sie blieben, nachdem US-Spezialkräfte am 2. Mai 2011 Osama bin Laden getötet hatten - allerdings nicht in Afghanistan, sondern im Nachbarland Pakistan. Dort hatte bin Laden offenbar jahrelang unbehelligt gelebt.
"Wir haben bin Laden vor einem Jahrzehnt Gerechtigkeit widerfahren lassen und sind danach ein weiteres Jahrzehnt in Afghanistan geblieben. Unsere Gründe zu bleiben, sind in dieser Zeit immer unklarer geworden", gab Joe Biden am 14. April 2021 bei seiner Ansprache im Treaty Room zu. "Amerikanische Truppen sollten nicht als Verhandlungsmasse zwischen den Kriegsparteien in anderen Ländern eingesetzt werden", betonte der Präsident.
Der Rückzug ist auch das Eingeständnis eigenen Versagens: Um Al-Kaida in Afghanistan auszuschalten, waren die USA und ihre Verbündeten von Anfang an Partnerschaften mit mächtigen afghanischen Warlords wie Mohammed Fahim und Abdul Rashid Dostum eingegangen. Beide wurden afghanische Vizepräsidenten, obwohl ihnen Kriegsverbrechen vorgeworfen werden.
Denn als die US-Koalition angriff, hatte Afghanistan bereits zwei Jahrzehnte Krieg hinter sich: die sowjetische Besatzung von 1979 bis 1989 und den direkt folgenden Bürgerkrieg, der bis heute ungelöst ist. Gegen die Rote Armee hatten die Warlords gemeinsam - auch mit US-Waffen - Widerstand geleistet. Doch danach konnten sie sich nicht auf eine gemeinsame Zukunft einigen. Ihr brutaler, rücksichtsloser Machtkampf zerstörte die Hauptstadt Kabul und führte zur Machtergreifung der Taliban.
Der Westen nahm auf diese Vorgeschichte keine Rücksicht. Die Gegner der Taliban wurden zu Partnern. USA und NATO investierten viel Geld, um ein neues, demokratisches Afghanistan aufzubauen. Verhandlungen mit den Islamisten lehnten die USA jahrelang strikt ab. Die Saat für neue Gewalt, neuen Terror und ausufernde Korruption war gelegt.
Das alles hat den Staatsaufbau erschwert, zu dem sich die internationale Gemeinschaft nach der Flucht der Taliban im Dezember 2001 entschloss. Die Fundamentalisten zogen sich nach Pakistan und ins afghanisch-pakistanische Grenzgebiet zurück. Von dort aus schlugen sie zurück. Erst vereinzelt, dann immer systematischer.
Die NATO-Mission wurde über die Jahre immer größer. Zwischenzeitlich waren fast 50 Nationen daran beteiligt. Doch aus einem Mandat, das eigentlich dem Schutz der Bevölkerung und dem Wiederaufbau dienen sollte, wurde ein Kampfeinsatz.
Der Afghanistan-Experte Ibraheem Bahiss, der auch die International Crisis Group berät, bringt es in einem Satz so auf den Punkt: "Wenn man die herrschenden Machthaber stürzt und durch die unterschiedlichsten Akteure ersetzt, die widersprüchliche Prioritäten und Ziele haben, dann scheint es kaum eine andere Wahl zu geben, als sich zu engagieren, um das Land vor dem Auseinanderfallen zu bewahren."
Doch nach zwei Jahrzehnten hat die US-Regierung entschieden, dass von Afghanistan, selbst wenn es zerfällt, keine so große Bedrohung mehr ausgeht, dass dort weiter Truppen stationiert sein müssten. Im Mittelpunkt amerikanischer Sicherheitsinteressen steht heute vor allem die Rivalität mit China.
Wie hoch ist die Zahl der Opfer?
Afghanistan zählt zu den tödlichsten Konflikten der Welt. Die UN-Mission in Afghanistan dokumentiert die Zahl der zivilen Opfer erst seit 2009. Danach wurden bis Ende 2020 fast 111.000 Zivilisten getötet oder verletzt. Für die meisten zivilen Opfer sind die Taliban und andere extremistische Gruppen verantwortlich. Doch auch die internationalen Truppen haben den Tod von vielen Zivilisten zu verantworten - vor allem durch den Beschuss afghanischer Dörfer mit Kampflugzeugen und Drohnen.
Die US-Armee verlor 2442 Soldaten, die Bundeswehr 59. Wie viele afghanische Soldaten und Polizisten getötet wurden, ist nicht bekannt. Die Zahl wird schon seit einigen Jahren aus Sicherheitsgründen geheim gehalten. Doch im Januar 2019 erklärte Präsident Ashraf Ghani beim Weltwirtschaftsgipfel in Davos, dass seit seinem Amtsantritt 2014 mehr als 45.000 afghanische Sicherheitskräfte ihr Leben verloren hätten.
Über die Zahl der getöteten Taliban-Kämpfer und anderer Extremisten liegen ebenfalls keine gesicherten Erkenntnisse vor. Nach Berechnungen des Costs of War Project der Brown University in Rhode Island und gemessen an aktuellen Medienberichten erscheinen deutlich mehr als 50.000 Tote realistisch.
Was ist über die Kosten des Krieges bekannt?
Das Costs of War Project der Brown University hat evaluiert, dass die Vereinigten Staaten zwischen Oktober 2001 und April 2021 mehr als zwei Billionen Dollar für den Afghanistan-Krieg ausgegeben haben. Zwei Billionen, das sind 2000 Milliarden.
Etwa die Hälfte der Summe, 933 Milliarden US-Dollar, entfiel danach auf den Einsatz der US-Armee. Nach Angaben des Weißen Hauses investierten die USA im gleichen Zeitraum 144 Milliarden Dollar in den Wiederaufbau Afghanistans. Der Großteil dieser Summe, mehr als 88 Milliarden US-Dollar, sei in den Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte geflossen.
Aus dem Auswärtigen Amt in Berlin ist zu hören, dass Deutschland zwischen 2002 und 2020 mehr als 18 Milliarden Euro für den Afghanistan-Einsatz aufgewendet hat. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums entfiel der weitaus größte Teil mit 12,5 Milliarden Euro auf den Einsatz der Bundeswehr.
Das Auswärtige Amt hat seit 2001 zivile Unterstützung in Höhe von 2,4 Milliarden Euro geleistet, teilte eine Sprecherin der Deutschen Welle mit. Der Aufbau staatlicher Institutionen sei zwischen 2002 und 2019 mit rund 950 Millionen Euro unterstützt worden.
Was hat die internationale Intervention erreicht, wo hat sie versagt?
Als die Intervention im Oktober 2001 begann, war Afghanistan ein isoliertes, zerstörtes Land, in dem Frauen gesteinigt und politische Gegner hingerichtet wurden. Nur drei Länder erkannten das fundamentalistische Emirat der Taliban an: Pakistan, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate.
Heute ist Afghanistan eine Islamische Republik mit einer demokratischen Verfassung und einer international anerkannten, gewählten Regierung. Frauen sitzen im Parlament, Mädchen besuchen die Schule. "Es herrscht ein größeres öffentliches Wissen über Menschenrechte, und der Diskurs über Menschenrechte ist lebendig", betont Shaharzad Akbar im Gespräch mit der Deutschen Welle. Die Vorsitzende der afghanischen Menschenrechtskommission hält das für eine massive Errungenschaft.
Es gibt eine junge, bildungshungrige Generation, die mit Leidenschaft die Angebote der neuen Schulen und Universitäten nutzt. Es gibt eine lebendige Medienlandschaft und neue Krankenhäuser. Dazu Straßen, Mobilfunkmasten, Dämme, Brücken, Strom- und Wasserleitungen. Doch das Land hat keinen Frieden gefunden und ist sozial tief gespalten. Ein Großteil der Hilfe kam nur den städtischen Eliten zugute.
Über die Hälfte der afghanischen Bevölkerung lebt weiter in bitterer Armut. Besonders betroffen: die umkämpften Gebiete im Süden und Osten des Landes - das Kernland der Taliban.
Die UN-Sondergesandte Deborah Lyons befürchtet, dass die Armutsrate durch die eskalierende Gewalt und die Corona-Pandemie von 50 auf über 70 Prozent steigen könnte. "Ich kann meine Besorgnis über die derzeitige Lage in Afghanistan nicht genug betonen", teilte sie dem Weltsicherheitsrat am 22. Juni mit.
Die US-Geheimdienste warnen bereits davor, dass die zerstrittene afghanische Regierung schon sechs Monate nach dem Abzug der letzten US-Truppen unter dem Druck der vorrückenden Taliban kollabieren könnte. Das "mögliche Abgleiten in düstere Szenarien ist nicht zu leugnen", sagt auch Deborah Lyons.
Gibt es eine Chance auf Frieden?
Zeitnah nicht. Nach ihrem Sturz im Winter 2001 waren die Taliban in einer Position der Schwäche, doch die USA lehnten Gespräche kategorisch ab. Das rächt sich jetzt, denn heute fühlen sich die radikalen Islamisten als Sieger - spätestens seit der Unterzeichnung des Doha-Abkommens mit den USA im Februar 2020.
Die Taliban haben mit pakistanischer Unterstützung eines ihrer Hauptziele erreicht: den bedingungslosen Abzug der internationalen Truppen. Sie sind militärisch in der Offensive und rücken landesweit auf urbane Zentren vor. Forderungen nach einem Waffenstillstand ignorieren sie. Sie lehnen die afghanische Verfassung ab und wollen sie durch ein "wahrhaft islamisches System" ersetzen, wie ihre Sprecher immer wieder betonen.
Die innerafghanischen Friedensverhandlungen, die im September 2020 in der katarischen Hauptstadt Doha begannen, stocken.
In den ersten drei Monaten dieses Jahres hat die Zahl der zivilen Opfer im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um fast 30 Prozent zugenommen. Vor allem Journalistinnen, Richterinnen und Aktivistinnen wurden durch gezielte Attentate getötet.
"Diese Eskalation der Gewalt bedeutet, dass die Taliban kämpfen, um zu gewinnen", sagt Menschenrechtskommissarin Shaharzad Akbar: "Sie kämpfen für eine militärische Machtübernahme. Sie werden zu allen Mitteln greifen, die sie für hilfreich halten."
Sollten die Islamisten tatsächlich militärisch siegen, befürchtet der afghanische Analyst Ibraheem Bahiss die Rückkehr zur Isolation der 1990er Jahre: "Es wird ein Paria-Staat sein, mit dem die Nachbarn, einschließlich China, nur verhandeln werden, wenn und falls sie es müssen. Die Hilfe wird versickern."
Welche Lehren sollten die westlichen Demokratien ziehen?
Unter Präsident Barack Obama hatten die Vereinigten Staaten um 2010 kurzfristig sogar mehr als 100.000 Soldaten in Afghanistan stationiert. Doch "Kriege werden nicht einfach dadurch gewonnen, indem man mehr Truppen und Geld in sie pumpt", sagt Ibraheem Bahiss. Deshalb begannen die USA schließlich im Juli 2018 doch offizielle Verhandlungen mit den Taliban - ohne Beteiligung der afghanischen Regierung oder der NATO-Partner.
"Wir sind wegen eines fürchterlichen Angriffs vor 20 Jahren in Afghanistan einmarschiert. Das kann nicht erklären, warum wir 2021 weiter vor Ort bleiben sollten", erklärte Biden am 14. April im Treaty Room, als er eingestand, dass ein Staatsaufbau mit militärischen Mitteln nicht möglich ist.
"Der Krieg in Afghanistan war nie als Aufgabe für mehrere Generationen gedacht", so Biden. "Wir wurden angegriffen. Wir sind mit klaren Zielen in den Krieg gezogen. Wir haben diese Ziele erreicht. Bin Laden ist tot, und Al Qaida ist zerschlagen, im Irak, in Afghanistan. Es ist an der Zeit, den ewigen Krieg zu beenden."
Afghanistan-Experte Bahiss gibt den westlichen Demokratien folgenden Rat für die Zukunft: "Versuchen Sie es mit ein wenig Demut und lernen Sie mehr über die Gesellschaften, die Sie verändern wollen." Gerade das Beispiel Afghanistan zeigt für ihn, wie falsch es sei, "alles als ein militärisches Problem zu begreifen."
Shaharzad Akbar beklagt im Gespräch mit der Deutschen Welle die Kultur der Straflosigkeit. Der Westen habe gepredigt, aber seine eigenen Werte nicht vorgelebt: "Allein die Tatsache, dass es nie eine ordentliche Untersuchung der glaubwürdigen Vorwürfe von Machtmissbrauch gegen die internationalen Streitkräfte gab, hat dem Ansehen geschadet. Schädlich war auch, dass die internationalen Partner Menschen ermächtigt haben, obwohl es gegen diese Personen glaubwürdige Vorwürfe von Kriegsverbrechen gab."
Genauso wie der US-geführte Krieg im Irak hat auch der Konflikt in Afghanistan weltweit für mehr, nicht weniger Terror gesorgt. Er hat eine Region, in der die beiden Atommächte Indien und Pakistan miteinander rivalisieren und Iran, China und Russland nach mehr Einfluss streben, aufgewühlt.
Afghanistan gehört aktuell zu den drei Ländern, aus denen die meisten Geflüchteten in Deutschland stammen.