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Urlaub in Russland ist Schwerstarbeit

Stephan Hille17. August 2004

Es muss nicht immer Antalya sein - immer mehr Russen machen Urlaub im eigenen Land. Besonders beliebt sind Flusskreuzfahrten: Zum Beispiel auf dem Ostsee-Weißmeer-Kanal ...

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Stephan Hille
Stephan Hille

Der Kanal wurde in Rekordzeit von 1931 bis 1933 auf Stalins Befehl von Zwangsarbeitern errichtet. Zehntausende von Arbeitsklaven fielen allein diesem Großprojekt zum Opfer.

"Achtung, Achtung", kräht der Lautsprecher an Bord der MS "Plechanow". Es ist sieben Uhr morgens. "Guten Morgen, verehrte Passagiere. "Wir bitten die erste Schicht zum Frühstück", verkündet Wladimir Smirnow, Chef-Animateur auf der "Plechanow".

Wenn man nur diesen verdammten Lautsprecher in der Kajüte abschalten könnte. Leider hat irgendjemand den Lautstärkeregler entwendet. Wir sind in der zweiten Schicht und könnten noch eine Stunde schlafen, theoretisch zumindest.

Aber Smirnow kennt keine Gnade und holt aus zu einem halbstündigen Referat über die Wetteraussichten, das Tagesprogramm sowie die Sehenswürdigkeiten zu beiden Seiten des Kanals. Allein 19 Schleusen sind auf dem Weißmeerkanal zu passieren, einige davon sind noch aus Holz. Smirnow kennt die Geschichte jeder Schleuse.

Und sollten jemals Peter der Große oder Russlands Nationaldichter Alexander Puschkin in dieser wunderschönen Gegend Halt gemacht haben, dann lässt Smirnow die Passagiere dies über den Bordlautsprecher natürlich wissen und zwar bis in das letzte Detail.

Während die erste Schicht morgens um sieben Buchweizengrütze und Hackfleischbällchen mit Nudeln verdrückt, wird mit einer Zange aus der Bordwerkstatt zumindest in unserer Kajüte Smirnow zum Schweigen gebracht. Den Frühstücksappell für die zweite Schicht hören wir auch so.

Nun gilt es keine Zeit zu verlieren: Die Hackfleischklöpse müssen herunter geschlungen werden und zwar schnell, schließlich beginnt gleich der Landausflug zu den Solowetzker Inseln, immerhin der Höhepunkt der Reise.

500 Jahre Klostergeschichte, die Solowetzker Inseln zählen zu Russlands heiligsten Orten. Schaurige Berühmtheit erlangten die Inseln nach der Oktoberrevolution 1917, als die Bolschewiki auf dem abgeschiedenen Archipel das erste Straflager errichteten.

Fünf Stunden sind für den Landgang vorgesehen. Und keine Minute länger, wie Alla, die Chef-Reiseleiterin, den Passagieren einschärft. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Alla, eine resolute Frau um die 50 mit blondierten Haaren und einem Make-Up, das vermutlich Augenkrebs verursacht, hatte zu Sowjetzeiten georgische Tanz-Ensembles auf Gastspielreisen im kapitalistischen Ausland bewacht.

Heute "bewacht" sie Touristen. An sowjetischer Strenge hat sie nichts eingebüßt. An Land stellt sie die rund 200 Touristen wie ein Generalfeldmarschall vor der Schlacht auf und teilt die Menge in kleinere Einheiten ein. Das Kommando haben nun die örtlichen Reiseführer. In Schulklassengröße werden die Gruppen in dreistündiger Exkursion durch Kreml, Kloster und Ausstellung getrieben. Wie vom Tonband rattern die Fremdenführer ihre Informationen herunter. Fragen sind unerwünscht, denn das bringt die Führer aus dem Tritt.

Atemlos erreichen die Passagiere das Schiff. "Urlaub in Russland ist Schwerstarbeit", erklärt einer der Mitreisenden.

Wladimir Smirnow hat bereits hinter dem Bordmikro Platz genommen. Am Abend verwöhnt der mitgereiste Sänger und verdiente Künstler Russlands Oleg Popanzew sein Publikum mit selbst komponierten Volksweisen über die Slawen und die Weiten des Landes. Danach gibt es "Diskotjeka". Dann herrscht endlich ein paar Stunden Ruhe und die "Plechanow" gleitet friedlich über den Weißmeerkanal.