Unter den Augen des Maestro
21. Dezember 2010Die Partitur liegt neben Kurt Masur – geschlossen. Der 83-jährige Dirigent braucht sie nicht; denn er kennt Beethovens 9. Sinfonie auswendig. Sie ist das Schlüsselwerk, das ihn vor rund 60 Jahren einen Beruf finden ließ: dirigieren. Seine Erfahrungen gibt Masur seit fünf Jahren in Bonn an junge Dirigenten weiter – bei den Meisterkursen des Beethovenhauses. Für die Kandidaten ist es eine wertvolle, aber auch aufregende Erfahrung, unter den Augen des Stardirigenten das Bonner Beethovenorchester zu leiten.
Zwischen Lob und Tadel
Christoph Altstaedt steht am Pult und führt mit ruhigen klaren Gesten das Orchester durch den ersten Satz der Beethoven-Sinfonie. Sein Blick wandert zwischen den Musikern und der Partitur hin und her. Die Neunte ist für ihn wie auch für die anderen Teilnehmer das musikalische Nonplusultra. Etwas bange ist ihm schon: "Es ist eine Musik, die in ihrer ganzen Größe nicht realisierbar ist. Ich will gucken, wie funktioniert diese Partitur, wie ist das, wenn man das zum ersten Mal in der Hand hat. Ich freue mich sehr darauf, obwohl man gerade bei dieser Sinfonie weiß, dass man ihr nicht gerecht werden wird."
Christoph Altstaedt, die Litauerin Mirga Grazinyte und Joshua Kangming Tan aus Singapur haben Kurt Masur bereits im vorherigen Kurs kennen gelernt. "Er spricht viel, das hat schon so diesen Hauch der Weisheit", sagt die junge Dirigentin, "und was ich sehr inspirierend finde, er kann auch ausbrechen und ein bisschen böse werden."
Geben und Nehmen
Masur kann während der öffentlichen Proben mitunter energisch dazwischenfahren, wenn ihm etwas nicht gefällt. Doch er liebt die Bonner Meisterkurse, in denen er auch daran erinnert wird, dass er als junger Dirigent mit den gleichen Schwierigkeiten konfrontiert war. Auf dem Programm stehen eine Beethoven-Sinfonie, Vorträge und viele Gespräche über das Werk. Gerade im Austausch mit den Kursteilnehmern könne er auch noch immer etwas dazu lernen, sagt Masur: "Es ist nicht so, dass man versucht, Recht zu haben. Das lehne ich immer ab. Ich sage, ich bin nicht euer Vater, sondern ich bin euer Kollege und wir sind gleichberechtigt. Und wenn wir die Wahrheit suchen, dann kriegt der die Krone, der die Wahrheit gefunden hat."
Der Komponist hat das Sagen
Diesmal konzentrieren sich die Meisterkursteilnehmer auf nur einen Satz von Beethovens Neunter; wann sie die komplette Sinfonie einmal aufführen werden, weiß keiner von ihnen. Das Wichtigste sind jedoch die wertvollen Tipps von Kurt Masur: "Er versucht uns immer wieder klar zu machen, dass wir beim Dirigieren nicht so sehr unsere eigenen Gedanken, sondern hauptsächlich die des Komponisten verfolgen sollen," erzählt Mirga Grazinyte, "er sagt, wenn ihr das nicht könnt, dann seit ihr keine richtigen Musiker. Denn die müssen dem Publikum vermitteln können, was der Komponist mit dem Werk ausdrücken wollte."
Autor: Klaus Gehrke
Redaktion: Gudrun Stegen