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"Unnötige zusätzliche Spannungen"

1. Oktober 2003

- Empörung in Litauen nach Besuch des Knesset-Vorsitzenden Reuven Rivlin

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Bonn, 1.10.2003, DELFI, LIETUVOS RYTAS

DELFI, Webseite, 26.9.2003, litauisch

Der Besuch des Vorsitzenden des israelischen Parlaments Reuven Rivlin in dieser Woche in Litauen hat leider nicht zur Verbesserung der bilateralen Beziehungen beigetragen, bedauerte der Präsident des litauischen Seimas (Parlament - MD), Arturas Paulauskas. "Der Besuch hat nicht zur Verbesserung unserer Beziehungen und zu einem besseren Verstehen unserer Positionen beigetragen", sagte der Parlamentsvorsitzende am Freitag (26.9.) im litauischen Rundfunk.

Nach Paulauskas' Worten war Rivlins Rede bei einer feierlichen Veranstaltung im Seimas anlässlich des Holocaust-Tages "ausgewogen, moderat und voll von Erinnerungen an die schmerzlichen Seiten unserer Geschichte", seine Rede an der Gedenkstätte (für die Opfer des Holocaust - MD) in Paneriai sei jedoch "voller Anschuldigungen" gewesen. Sie habe zu unnötigen zusätzlichen Spannungen in den Beziehungen beider Länder geführt.

Der Vorsitzende des Seimas sagte, Litauen habe eine Menge getan, um das Bewusstsein der Jugendlichen für die Holocaust-Tragödie zu wecken. Paulauskas fügte hinzu, er könne nicht ganz begreifen, warum Rivlin bemüht sei, den Holocaust mit der Rückgabe ehemaligen jüdischen Eigentums in Verbindung zu bringen. "Es scheint, man ist bemüht, die Eigentumsfrage über das Blut der Ermordeten zu klären. Meiner Ansicht nach sollte das Eigentumsproblem als Restitutionsproblem nach litauischen Gesetzen gelöst werden und jeder sollte diese Gesetze nutzen, der ein Recht darauf hat", erklärte Paulauskas.

Der Vorsitzende des Seimas sagte, er habe die Frage der Repatriierung mit dem Knesset-Vorsitzenden erörtert. Man habe darüber gesprochen, ob die Juden, die in ihre historische Heimat Israel zurückgekehrt sind, als Heimkehrer zu betrachten seien und ob sie zusätzlich zu der israelischen auch die litauische Staatsbürgerschaft erhalten sollten.

"Mein Standpunkt heute ist klar - wir können über das öffentliche Eigentum der jüdischen Gemeinde und über die Rückgabe dieses Eigentums reden. Und dieser Prozess ist bereits im Gange. Wenn wir aber vom Eigentum von Bürgern sprechen, dann muss an dieses Problem nach den Gesetzen unseres Landes herangegangen werden - jeder kann die Staatsbürgerschaft erwerben, wenn die Gesetze eine solche Möglichkeit vorsehen", sagte Paulauskas.

Den Begriff Repatriierung weiter zu fassen würde bedeuten, dass die Frage des Eigentums für alle, die das Land nach dem Krieg (Zweiten Weltkrieg - MD) verlassen haben, aktuell wird. "Das würde uns in eine so komplizierte Lage bringen, dass wir für die kommenden Jahrzehnte nicht im Stande sein würden, das Gesetz über Eigentumsrückgabe umzusetzen", so Paulauskas. Daher sollten Staatsbürgerschaft und Eigentumsrückgabe getrennt betrachtet werden.

Nach Worten des Parlamentsvorsitzenden ist die Staatsbürgerschaft sehr genau durch litauische Gesetze geregelt und Änderungen sind nur im Hinblick auf die Bestimmungen möglich, die die Nicht-Litauer betreffen, die in Litauen geboren sind oder hier ihre Wurzeln haben und die Litauen vorübergehend verlassen haben. "Darüber braucht nicht diskutiert zu werden. Was die übrigen Bestimmungen betrifft, so ist das Gesetz in Ordnung und muss umgesetzt werden", erklärte Paulauskas.

Rivlin hatte an der Holocaust-Gedenkstätte in Paneriai am Dienstag (23.9.) erklärt, "das Volk Litauens hat sich immer noch für vieles zu verantworten" und die örtlichen Bewohner Litauens seien nicht nur "begeisterte" Helfer der Nazis bei der Ermordung von Juden gewesen, sondern hätten auch von der Aneignung und dem Verkauf des Eigentums der ermordeten Juden profitiert. Der Vorsitzende der Knesset betonte auch, dass Litauen die Gesetze aufheben müsse, die Juden daran hindern, die Rückgabe des Eigentums, das ihnen einst in Litauen gehörte, zurückzufordern und für die Juden, die Litauen verlassen haben, Voraussetzungen schaffen müsse, damit sie wieder die litauische Staatsbürgerschaft erhalten können.

Premierminister Algirdas Brazauskas hat Änderungen des Staatsbürgerschaftsgesetzes vorgeschlagen, um den aus Litauen stammenden Juden entgegenzukommen. Präsident Rolandas Paksas hingegen mahnte zur Vorsicht bei der Erörterung dieser Vorschläge. (TS)

LIETUVOS RYTAS, litauisch, 25.9.2003

Der Besuch des Vorsitzenden der israelischen Knesset Reuven Rivlin hat wieder einmal - auf erbarmungslose Weise - die Wunden geöffnet, die der Zweite Weltkrieg verursacht hat. In seiner Rede behauptete der Vorsitzende des israelischen Parlaments, das litauische Volk habe nicht nur den Nazis beim Massaker an Juden geholfen, und zwar mit recht großer Begeisterung, sondern sich auch durch die Aneignung und den Verkauf des Eigentums der Opfer bereichert.

Die Anschuldigungen sind sehr ernst. Dennoch stellt sich die Frage, ob der Knesset-Chef etwas gesagt hat, was wir nicht ohnehin schon wissen.

Sowohl historische Dokumente als auch persönliche Erinnerungen von Menschen belegen, dass die Mörder von den Opfern stammende Kleidung und Gold verkauften und dass die Käufer nicht Deutsche waren. Einige Litauer plünderten die Häuser ihrer ermordeten jüdischen Nachbarn. Das gleiche geschah übrigens mit dem Eigentum der Litauer, die nach Sibirien deportiert wurden.

Rivlins Rede im Seimas (Parlament - MD) und in Paneriai (Vorort von Vilnius, wo im Krieg Juden ermordet wurden - MD) hat in Litauen erwartungsgemäß eine Welle der Empörung ausgelöst. Hunderte von Menschen haben sich - einige von ihnen stolz - mit den Juden-Mördern solidarisch erklärt.

Das bestätigt letztlich Rivlins Gedanken, dass zumindest ein Teil der litauischen Öffentlichkeit bis heute nicht begriffen hat, welch schreckliche Rolle Tausende Soldaten des litauischen Heimat-Verteidigung-Bataillons bei den Massakern an Juden in Litauen und Weißrussland gespielt haben.

Forderung nach Eigentumsrückgabe weckt antisemitische Stimmungen

Die größte Empörung weckte jedoch Rivlins Äußerung, Israel werde die Forderungen nach Rückgabe litauischen Besitzes, das überlebenden litauischen Juden gehört, nicht aufgeben. Die in diesem Lande vorherrschende Meinung lautet, diese Erklärung sei völlig falsch und für Litauen sogar beleidigend. Ist das wirklich so?

Nach den litauischen Gesetzen haben nur litauische Staatsbürger das Recht, ihr Eigentum zurückzufordern. Die Frage ist, ob diese Regelung einwandfrei ist. War es richtig, die Staatsbürgerschaft an die Wiederherstellung der von den Besatzern mit Füßen getretenen Gerechtigkeit zu knüpfen?

Wenn sich Litauen für die Option entschieden hat, sich wie Weißrussland zu isolieren, dann machte dies vielleicht Sinn. Litauen hat sich aber für die europäische Integration und die EU-Mitgliedschaft entschieden, also für die Verpflichtung, seine Gesetze den europäischen Gesetzen anzupassen. Daher wird Litauen anerkennen müssen, dass privates Eigentum heilig und unantastbar ist, egal wo der Eigentümer lebt und welchen Pass er besitzt. Wenn die litauischen Behörden in Vilnius ein Haus verkaufen, ohne den Eigentümer, der noch am Leben ist, darüber in Kenntnis zu setzen, dann bedeutet das, der Staat profitiert von gestohlenem Eigentum.

Unrechtmäßig erworbenes jüdisches Grundeigentum wird zurückgegeben werden müssen

Den meisten Menschen ist dies unverständlich, aber früher oder später wird gestohlener Besitz an die rechtmäßigen Eigentümer zurückgegeben werden müssen. Dabei wird es keine Rolle spielen, welcher Ethnie sie angehören, ob es Polen, Deutsche, Juden oder Karaiten sind.

Gemäß dem Grundsatz der Unantastbarkeit wird das Problem der Rückgabe verstatlichten jüdischen Eigentums als solches anerkannt werden müssen. Das Wiedererstehen des Staates bedeutet auch die Wiederherstellung der Eigentumsrechte. Einige Leute sind jedoch der Ansicht, wenn die Eigentumsrechte aller ehemaligen Eigentümer wieder hergestellt werden, unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit und ihrem Eigentum, dann wäre Litauen das einzige Land in der Welt, das so handelt.

Deutschland und Frankreich haben die Rechte der rechtmäßigen Eigentümer im Hinblick auf geplündertes jüdischen Eigentum aber bereits wieder hergestellt. Wenn diese Länder es getan haben - haben wir denn dann eine Alternative?

Rückgabe des Eigentums an die Staatsbürgerschaft zu knüpfen war ein Fehler

Möglicherweise war die Entscheidung des Obersten Rates von 1990, die Wiederherstellung der Eigentumsrechte an die Staatsbürgerschaft zu knüpfen, kein Fehler, diese Entscheidung weiterhin zu befolgen könnte sich aber möglicherweise als sehr großer Fehler erweisen. Ohne die Probleme zu lösen, die auf die Vergangenheit zurückgehen, kann sich eine Gesellschaft nicht ungehindert vorwärts bewegen. Daher ist die Wiederherstellung der Eigentumsrechte der rechtmäßigen Eigentümer das Problem dieses Landes und seiner Bürger und nicht das Israels und verschiedener jüdischer Organisationen. Wenn wir uns dafür entscheiden, immer wieder an die Tausende von Juden-Mördern erinnert zu werden, ist Engagement nicht möglich und wir werden weiterhin die Juden verfluchen. Es ist aber eine gute Frage, ob Besitz, den man sich mit Hilfe eines Diebes angeeignet hat, glücklich machen kann.

Ein weiteres Problem ist, dass die Wiederherstellung der Eigentumsrechte aller rechtmäßigen Eigentümer sich sehr schwierig gestalten würde, weil der Privatisierungsprozess fast beendet ist. Ein noch größerer Fehler wäre es, die Frage des jüdischen Eigentums isoliert von der polnischen und deutschen Eigentums in Litauen zu betrachten.

Wenn die Regierung vor zwölf Jahren vernünftig genug gewesen wäre, die Rückgabe des Eigentums nicht an die Staatsbürgerschaft zu knüpfen, wäre alles viel einfacher. In dieser Zeit wechselten die meisten Gebäude mehrfach den Eigentümer, die Preise stiegen im Vergleich zu 1992 dramatisch, viele der Gebäude wurden restauriert und dafür gibt es praktisch keinen Ersatz.

Andererseits weiß man nicht, wie viele jüdische Erben es noch gibt. Eines ist klar: dieses Land wird das Problem mit einem einzigen Schwung nicht lösen können. Keiner kann aber fordern, dass Gerechtigkeit an einem einzigen Tag wiederhergestellt wird.

Die litauische Regierung sollte dringend entscheiden, welche Politik das Land verfolgen soll: ob es sich weigern wird, die Eigentumsrechte wiederherzustellen oder ob es den Eigentümern ihr Eigentum zurückgibt. Sollte sie sich für das letztere entscheiden, dann wird es nicht nötig sein, mit Israel zu verhandeln; es wird dann hier zu Hause darüber diskutiert werden. Vieles wird von der öffentlichen Meinung abhängen, ob dieses brennende Problem, das dem freien Litauen von seiner Vergangenheit aufgedrängt wird, erfolgreich gelöst wird. Das ist eine ernsthafte Herausforderung für die Regierung und die Öffentlichkeit.

Die antijüdische Stimmung wird sich verstärken

Zweifellos würde die Wiederherstellung der Eigentumsrechte in diesem Lande die antijüdischen Stimmungen, die es bereits gibt, weiter verstärken. Das könnte den Einfluss politischer Kräfte vergrößern, die ihre antijüdische Haltung offen deklarieren. Das ist aber ein Problem Litauens, das es an einem bestimmten Punkt wird lösen müssen.

Um das Problem der Eigentumsrückgabe zu lösen, wird die politische Elite des Landes eine Menge an politischem Willen und Anstrengungen aufbringen müssen, um die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass die 50 Jahre der Besatzung und des Leids, das sie gebracht haben, nicht als Entschuldigung dafür genutzt werden, Eigentum zu besitzen, das anderen weggenommen worden ist.

Es bleibt abzuwarten, ob Politiker in der Lage sind, die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass es vor allem für Litauen wichtig ist, dass das, was rechtswidrig jemandem weggenommen worden ist, zurückgegeben wird. Jeder Rechtsstaat ist verpflichtet, christliche Werte praktisch und nicht nur mit Worten zu untermauern - Werte, die für alle Menschen in Europa gelten, unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit. (Überschrift von MD) (TS)