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Unfaire Behandlung

Frank Sieren31. März 2014

Chinas neues Gesundheitssystem ist ein Großereignis in der Weltgeschichte der sozialen Errungenschaften. Doch ausgerechnet die chinesischen Versicherten empfinden das anders. Zurecht, meint DW-Kolumnist Frank Sieren.

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Krankenpfleger China Erdbeben (Foto: AFP/Getty Images)
Bild: Mark Ralston/AFP/GettyImages

Mehr als 100 Millionen Chinesen haben keine Krankenversicherung. Das sind mehr Menschen, als Deutschland Einwohner hat. Ein Skandal? Nicht wirklich. Denn rund 1,2 Milliarden Menschen sind bei einer Versicherung registriert. Die Fortschritte des letzten Jahrzehntes sind beachtlich. Noch 2003 waren gerade einmal 30 Prozent der Landbevölkerung versichert. Inzwischen sind es über 95 Prozent. Das ist schon ein Großereignis in der Weltgeschichte der sozialen Errungenschaften.

Auch das umherstreifende Wanderarbeiterheer von 200 Millionen Chinesen hat eine Grundversorgung. In den Städten ist jeder arbeitende Chinese krankenversichert. Wie in Deutschland besteht Versicherungspflicht. Und wie in Deutschland werden die Kosten für die Versicherung gemeinsam von Arbeitnehmern und Arbeitgebern getragen.

Landbevölkerung im Abseits

Damit sind die Gemeinsamkeiten allerdings schon erschöpft. Nicht nur, dass die Versicherungssumme viel geringer ist. Die Bevölkerung auf dem Land ist nicht so begeistert, wie es sich die Regierung eigentlich wünscht. Das liegt an den Konstruktionsfehlern der Versicherung. Sie greift nämlich nur, wenn der Kranke an seinem Wohnort zum Arzt geht. Entscheidet man sich für eines der besser ausgestatteten Krankenhäuser in der Stadt, mit den besseren Ärzten, wird das schnell sehr teuer.

Frank Sieren (Foto: Sieren)
Sieren: "Eine Art Abstimmung über die Arbeit der Regierung"Bild: Frank Sieren

Zu teuer für die meisten Menschen auf dem Land. Deshalb sehen die Familien dort den Sinn der Krankenversicherung nicht. Sie wollen diese Kosten lieber sparen. Sogar die gerade einmal 50 Yuan im Jahr, also sechs Euro, die so eine Police kostet, ist ihnen diese Absicherung nicht wert. Denn die Qualität der Gesundheitsversorgung ist auf dem Land immer noch miserabel. Kaum ein Arzt erklärt sich bereit, in einem ländlichen Krankenhaus zu praktizieren.

"Nummernhändler" im Krankenhaus

Doch auch in den Großstädten ist die Lage angespannt. Zwar verfügt jede Großstadt über ein dichtes Netz von Krankenhäusern – nur zwei oder drei sind jedoch auch gut ausgestattet. Da wollen alle Kranken hin. Patienten kommen lange vor Sonnenaufgang oder verbringen vergeblich die Nacht an den Schaltern, in der Hoffnung noch eine der Wartenummern für den Tag zu bekommen. In ihrer Not bleibt ihnen dann nichts mehr anderes übrig, als sich mit einem der Nummernhändler zu arrangieren. Das sind Leute, die Kontakte im jeweiligen Krankenhaus haben und mit Hilfe der Angestellten und Ärzte noch ein paar Minuten bei dem gewünschten Arzt rausschlagen. Das lassen sie sich allerdings mit ein paar hundert Yuan, umgerechnet ein paar Dutzend Euro, bezahlen.

Für viele der Patienten schon zu viel Geld. Obendrauf kommt noch die Anmeldegebühr für den Arzt. Diese reicht von ein wenig Kleingeld bis hin zu mehreren Hundert Yuan, je nach Qualität des Arztes. Doch für alle gilt das Gleiche: Stundenlang ausharren im Wartesaal, bis man dann für fünf Minuten dem Arzt sein Leid klagen kann. Bis zu 100 Menschen muss ein chinesischer Arzt täglich beraten. Und die meisten Patienten erwarten auch noch, dass ihnen sofort geholfen werden kann.

Ärzte unter Druck, misstrauische Patienten

Es lastet also ein riesiger Druck auf den Ärzten. Erschwerend kommt hinzu, dass sie das meiste Geld verdienen, wenn sie viele Medikamente verschreiben. Mittlerweile machen die Provisionen knapp die Hälfte der Einnahmen aus. Viele Patienten misstrauen deshalb den Verschreibungen des Arztes.

Und so führt das neue, eigentlich vorbildliche Gesundheitssystem dazu, dass das Verhältnis zwischen Arzt und Patient in China gespannt ist. Besonders brisant wird es, wenn eine Operation ansteht. Familien lassen dem operierenden Arzt Geld oder Geschenke zukommen, damit dieser sich mehr Mühe gibt. Natürlich unter der Hand. Wenn eine Operation dann daneben geht, kann es auch zu extremen Situationen kommen. Immer wieder werden chinesische Ärzte von aufgebrachten Patienten oder deren Familien angegriffen. Einzelne wurde sogar umgebracht.

Das lässt sich alles nicht so einfach ändern. Nun schraubt die Führung frustriert daran herum. Auf dem Land sollen Ärzte künftig besser bezahlt werden. Außerdem werden die Preise für Medikamente strenger kontrolliert, damit Krankenhäuser sie nicht mehr überteuert verkaufen können.

Viel zu verbessern

Doch erst, wenn die Chinesen für ihren Versicherungsbeitrag immer und überall eine angemessene Behandlung bekommen, werden sie die Versicherung ernstnehmen. Auch das ist eine Art und Weise, über die Arbeit der Regierung abzustimmen. Die Macht der Bevölkerung kann in dieser Hinsicht gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die Regierung kann noch hundert Mal auf die historische Bedeutung der Reformen hinweisen. Wenn das Volk anderer Meinung ist, ist es eben anderer Meinung. Auch, wenn dies in den Augen der Reformer ungerecht ist.

Niemand, auch die kommunistische Partei nicht, kann ältere Leute, die mal wieder keinen Termin beim Arzt ihres Vertrauens ergattert konnten, daran hindern, verklärend in die Maozeit zurückzublicken: Damals war die Qualität der Behandlung durch die sogenannten Barfußärzte fast ausnahmslos miserabel – aber zumindest stets kostenlos und jederzeit verfügbar.

Unser Korrespondent Frank Sieren gilt als einer der führenden deutschen China-Spezialisten. Er lebt seit 20 Jahren in Peking.