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Unbezwingbare Aktenberge

Silke Bartlick6. August 2004

Eine große Reform wirft ihren Schatten voraus: Ab Januar 2005 treten die sogenannten Hartz-IV-Gesetze in Kraft. Bei der Umsetzung hakt es in Berlin aber schon im Detail: Es gibt weder Platz noch Geld für neue Schränke.

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Anträge, Bewilligungen, Briefe und Atteste, die Papier gewordene Lebensgeschichte ganzer Generationen von Sozialhilfeempfängern stapelt sich in den schlichten Schränken des Sozialamtes im Berliner Stadtteils Friedrichshain-Kreuzberg. In diesem verarmten Ost-West-Bezirk mit seinen knapp 260.000 Einwohnern ist jeder vierte ein Ausländer, die Arbeitslosenquote liegt bei 21 Prozent und im alten West-Berliner Szene-Bezirk Kreuzberg lebt jeder sechste von Sozialhilfe. Jeder dritte hat keinen Berufsabschluss.

"Es ist alles ganz furchtbar", sagt die verantwortliche Sozialstadträtin Kerstin Bauer. Denn die neuen kaffeebraunen Ordner aus der Bundesagentur für Arbeit, in denen künftig die Papiere der Sozial- und Arbeitslosenhilfeempfänger archiviert werden sollen, passen nicht in die alten Schränke, sie lassen sich nicht in die vorhandenen Führungsschienen einhängen.

Tickende Uhr

Für neue Schränke ist aber weder Geld da noch der nötige Platz. Bislang weiß Kerstin Bauer nicht, wie sie das Problem lösen soll. Dabei tickt die Uhr unaufhörlich. Der 1. Januar 2005 naht mit Riesenschritten, der Tag, an dem die Hartz-IV-Gesetze gültig werden und das neue Arbeitslosengeld II ausgezahlt werden soll. Der erste Tag der, so die Bundesregierung, bedeutendsten und umfassendsten Arbeitsmarktreform in der Geschichte der Bundesrepublik'.

Es ist schon ein Kreuz. Denn ausgerechnet dort, wo das mit dieser Reform einhergehende neue Prinzip "Fördern und Fordern" besonders nötig wäre, kämpft man nicht nur mit den Schränken: Für die Mitarbeiter des neuen Berliner Job-Centers gibt es weder genügend Räume noch Schulungen zur neuen rechtlichen Regelung zum Arbeitslosengeld II und das Computernetzwerk ist sowieso nur begrenzt belastbar.

Alles besser in München

In der Zeitung hat Kerstin Bauer vor ein paar Tagen nun einen Artikel über ein real existierendes Arbeitsparadies gelesen und mit großen Augen gestaunt. In München, der bayerischen Hauptstadt, so stand da, ist nämlich wieder mal alles anders und viel, viel besser. Wie auf einem anderen Stern irgendwie. Längst gibt es dort "Sozialbürgerhäuser" mit blau uniformierten netten Damen, die an "Infotheken" auf jede Frage eine passende Antwort parat haben und ihren "Klienten" warteschlangenlose Termine im vereinigten Ämterhaus vermitteln. München, so steht in dem Artikel, die Großstadt mit der geringsten Arbeitslosigkeit – etwa sechs Prozent gegenüber knapp 18 in Berlin – und weit überdurchschnittlichen Steuereinnahmen, könnte eine Hartz-IV-Musterstadt werden.

Im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg aber verhindern wachsende, nicht unterzubringende Aktenberge jede Form von Weitsicht und Überblick. Selbst das Träumen von einer reibungslos funktionieren, bürgerfreundlichen Bürokratie birgt Gefahren. Die Aktenberge könnten ja infolge einer unbedachten Bewegung ins Rutschen kommen und die raren Sachbearbeiter verletzten. Weshalb lieber erst mal weiter gewurstelt wird. Bescheidenes Ziel: Die Leute sollen am 1. Januar ihr Geld bekommen, und zwar wie vorgegeben eigentlich per Überweisung. Bloß, viele Sozialhilfeempfänger haben noch gar kein Bankkonto. Wer genau das ist, steht in den Akten, für die die Schränke noch fehlen.