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Politik

"Wir können das schaffen"

Claudia Witte (Adaption: Jan D. Walter)19. September 2016

Die Regierungen müssen aus dem Chaos lernen, das die Zuwanderungswelle 2015 ausgelöst hat, warnt UN-Flüchtlingskommissar Vincent Cochetel. Grundsätzlich sei die Migration aber zu bewältigen.

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Griechenland Mazedonien Flüchtlinge bei Idomeni (Foto: Photo by Getty Images/M. Cardy)
Bild: Getty Images/M. Cardy

Am 19. September findet im Rahmen der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York der Flüchtlings- und Migrationsgipfel statt. Vorab hat die DW mit Vincent Cochetel, UN-Flüchtlingskommissar für Europa, gesprochen.

DW: Welche Forderungen haben Sie in Bezug auf den Gipfel in New York?

Vincent Cochetel: Wir erwarten von den europäischen Staaten, dass sich Ziel-, Asyl- und Transitländer darauf einigen, in der Flüchtlingskrise zusammenzuarbeiten. Mit Blick auf Europa kommt es einem vor, als seien Staaten teilweise nicht gewillt, aus den Geschehnissen von 2015 zu lernen.

Welche Fragen müssen sich die europäischen Staaten nun stellen?

Vincent Cochetel vom UNHCR (Foto: © UNHCR/S. Hopper)
Vincent Cochetel seit 1986 beim UNHCRBild: UNHCR /S. Hopper

Sind wir uns sicher, dass Europa heute besser auf massive Immigration vorbereitet ist als Mitte 2015? Auch wenn die akute Krise vorbei ist, sind die Hauptfaktoren für Vertreibung und Wirtschaftsmigration immer noch da. Afghanistan, Irak, Syrien und Libyen - all diese Konflikte sind ungelöst. Und es gibt weitere, wegen denen Menschen vertrieben werden könnten.

Aber sie müssen sich auch fragen, warum es so lange dauert, die Flüchtlinge umzusiedeln. Seit einem Jahr gibt es Zielvereinbarungen mit Griechenland. Die sind erst zu 13 Prozent erfüllt. Bezogen auf Italien sind es fünf Prozent.

Wie müsste man sich konkret vorbereiten?

Wir glauben, dass die Krise gezeigt hat, dass wir in Europa ein gemeinsames Personenregister benötigen - nicht nur mit Fingerabdrücken, sondern mit allerlei Informationen über die Vorgeschichte. Das würde vieles erleichtern: die allgemeine Planung, Migranten an der Weiterreise innerhalb der EU zu hindern, die Dublin-Vereinbarung einzuhalten, unbegleitete Minderjährige zu erfassen und Familien zusammenzuführen. Technisch wäre das umsetzbar, aber es bräuchte ein wenig gemeinsamen Willen.

Hat sich denn bisher gar nichts verbessert? Sind keine Lehren gezogen worden?

Nein, bisher nicht. Die Europäische Kommission hat im Juni und Juli eine Reihe von Vorschlägen vorgelegt. Manche davon weisen in die richtige Richtung, aber die großen Probleme gehen sie nicht an. Es sind schnelle Lösungsversuche, aber sie funktionieren nicht.

Türkei Griechenland Abschiebung von Flüchtlingen (Foto: Copyright: picture alliance/abaca/AA)
Viele Migranten wurden im Rahmen des "Flüchtlingsdeals" zwischen Brüssel und Ankara in die Türkei gebrachtBild: picture alliance/abaca/AA

Wie müssten die Lösungen denn konkret aussehen?

Es gibt keine Zauberformel. Klar ist aber, es geht nur mit gemeinsamen Ansätzen und Instrumenten. Derzeit gibt es vielleicht 50.000 Asylsuchende in Griechenland. Das sollte keine Krise auslösen. Mit funktionierender Registrierung und zügiger Bearbeitung ist das zu bewältigten: Wer nicht schutzbedürftig ist, wird abgeschoben, wer Schutz benötigt, erhält Asyl und wird angesiedelt - in Griechenland oder einem anderen EU-Land. In dieser Krise geht es nicht um Zahlen, sondern um die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten.

Mitgliedstaaten, die vor solchen Situationen stehen, müssen viel schneller und einfacher unterstützt werden. Ambulante Registrierungszentren der EU etwa könnten dabei helfen: Sie würden je nach Bedarf in Griechenland oder Italien arbeiten - oder in Polen, falls es eine Migrationswelle aus der Ukraine geben sollte.

Wäre es für Flüchtlinge nicht das Beste, sie fänden Asyl in ihren Nachbarländern?

Das wäre für die meisten der Idealfall. Dann könnten sie zurück in ihre Heimat, sobald die Lage dort sich verbessert. Sie wollen nicht entwurzelt werden, und bei einem Waffenstillstand in ihrer Region könnten sie nach ihrem Eigentum sehen. Das ist es, was Flüchtlinge normalerweise wollen: Viele Syrer sind ja drei Jahre lang in der Türkei oder anderen Nachbarländern geblieben, bevor sie weitergezogen sind. Erst als die Lage auch dort schlechter wurde - bezüglich Nahrung, Bildung und Arbeit - haben sie versucht, für sich und ihre Familien eine andere Zukunft zu suchen.

Griechenland Flüchtlingsunterkünfte (Foto: picture alliance/dpa/O. Panagiotou)
Griechenland hat es schwer mit der großen Zahl von Flüchtlingen, die über das Mittelmeer kommenBild: picture-alliance/dpa/O. Panagiotou

Inwiefern sind Menschenhändler für den Aufbruch verantwortlich? Haben sie bei Flüchtlingen falsche Hoffnungen geschürt?

Schmuggler richten sich nach dem Markt. Nicht ihr Angebot, sondern die Verzweiflung der Menschen hat die großen Flüchtlingszahlen hervorgerufen. Trotz aller Bemühungen der Internationalen Gemeinschaft gehen zum Beispiel in der Türkei nur 30 Prozent der Flüchtlingskinder zu Schule. Viele denken dann: Meine Generation mag verloren sein, aber für meine Kinder will ich eine andere Zukunft.

Wie überzeugen Sie Menschen in Europa davon, dass die Einwanderung zu bewältigen ist?

Wir sollten nicht in Panik verfallen. Es ist nicht das erste Mal, dass Europa mit einer Flüchtlingsbewegung konfrontiert ist. Und nicht jeder Migrant ist ein Flüchtling. Abschiebungen müssen besser funktionieren, und Integration darf nicht dem Zufall überlassen werden. Da muss man in die Zukunft investieren. Zudem werden die Menschen nicht für immer Schutz benötigen. Viele Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina etwa sind inzwischen zurückgekehrt. Sie haben teilweise einen fremden Pass und leben in zwei Ländern. Das ist in Ordnung, das ist Mobilität.

Vincent Cochetel ist Leiter des UNHCR-Büros für Europa.

Das Interview führte Claudia Witte.