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Vor einem kalten Winter

Nina Werkhäuser23. September 2014

Die Aktivisten des Maidan stemmen sich dagegen, dass ihre Forderungen in der Schublade verschwinden. Sie verlangen Reformen, damit die Ukrainer den Winter durchstehen. Einige von ihnen gehen selbst in die Politik.

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Alte Frauen bessern mit Straßenverkäufen in der in der Stadt Ukrainsk ihre Rente auf (Foto: AP)
Bild: picture alliance/AP Photo

Der kommende Winter könnte ein kalter werden in der Ukraine. Angesichts des Gasstreits mit Russland decken sich die Menschen massenhaft mit elektrischen Heizgeräten ein. Aber es ist nicht die Kälte, die Mustafa Najem am meisten fürchtet. Der populäre ukrainische Journalist, der die Proteste auf dem Maidan mit angeschoben hat, macht sich ganz andere Sorgen: "Die Ukrainer sind zutiefst deprimiert. Erst hatten wir den Maidan, dann verloren wir die Krim und jetzt herrscht Krieg mit Tausenden Toten." In dieser Situation sei es für Präsident Petro Poroschenko und seine Regierung schwer, die Lebensbedingungen der Menschen rasch zu verbessern, sagte Najem der Deutschen Welle. Der Journalist war Gast bei den "Kiewer Gesprächen", einer renommierten Berliner Fachtagung zu den Entwicklungen in der Ukraine.

Führt die Ernüchterung zu neuen Protesten?

"Das große Problem des kommenden Winters wird nicht der Mangel an Gas oder Öl sein, sondern die Enttäuschung der Menschen", so Najem. Erneute Proteste könne die Regierung nur dann verhindern, wenn sie mit den Menschen kommuniziere. "Die Ukrainer halten traditionell nichts von der Regierung, vom Präsidenten und vom Parlament", beschreibt Najem die Reaktion auf mehr als zwei Jahrzehnte Korruption und Selbstbereicherung durch die politischen Eliten. Daher müssten Präsident und Regierung sich fortan enorm anstrengen, ihre Entscheidungen öffentlich zu erläutern und Schwierigkeiten zuzugeben. "Aber davor haben unsere Politiker leider Angst." Gezeigt habe sich das an der umstrittenen Entscheidung des Parlaments, den Städten Donezk und Lugansk einen Sonderstatus einzuräumen. Nicht nur die Öffentlichkeit bekam davon zunächst nichts mit, auch Abgeordnete beklagten Unstimmigkeiten im Verfahren.

Der Journalist Mustafa Najem
Der Journalist Mustafa NajemBild: Mustafa Najem

Korrupte Kader sollen weichen

Wie gering das Vertrauen der Menschen in die Vertreter des Staates ist, wurde bei den "Kiewer Gesprächen" wiederholt thematisiert. Politische Ämter seien in der Ukraine stets als "Geschäft", als Einkommensquelle gesehen worden, sagte Jehor Sobolew, der Leiter des "Lustrationskomitees" der Ukraine. Das Komitee, das sich nach den Maidan-Protesten gegründet hat, will die korrupten Kader aus der Verwaltung drängen. Der frühere Wirtschaftsjournalist Sobolew sprach von einem "räuberischen System", das zerstört werden müsse. Bisher sei das Verständnis der Regierungsmitglieder, Richter und Staatsangestellten nicht gewesen, etwas für das Volk tun, sondern etwas vom Volk zu nehmen. Ein ukrainischer Richter, der einen Bentley fahre, habe diesen sicher nicht mit seinem Gehalt von einigen Hundert Euro monatlich finanziert. "Die Erneuerung der Eliten ist eine Schlüsselfrage für die Ukraine", betonte Sobolew, der 2013 die neue politische Partei "Wolja" - "Freiheit" gegründet hat.

Reformen statt Reform-Rhetorik

Nicht nur im Beharrungsvermögen der Kräfte aus der Janukowitsch-Ära sehen die Protagonisten des Maidan eine Gefahr, sondern auch in der desolaten wirtschaftlichen Lage des Landes. "Wir müssen mit einer Hand Krieg führen und mit der anderen das Land aufbauen", sagte Anatoliy Maksyuta, stellvertretender Minister für wirtschaftliche Entwicklung und Handel. "Im Osten bricht uns ein Teil unserer Wirtschaft weg, Unternehmen und Infrastruktur werden zerstört, die Investitionen sinken."

Das Plenum der "Kiewer Gespräche" am 22. 9.2014 in der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin (Foto: DW)
Großes Interesse an der Ukraine: Die "Kiewer Gespräche"Bild: DW/N. Jolkver

In dieser prekären Lage sei die Ukraine auf finanzielle Hilfe angewiesen, sagte Maksyuta. Er hofft auf eine internationale Geberkonferenz auf Initiative der EU. Gleichzeitig müsse die Europäische Union die Ukraine bei den anstehenden Reformen intensiv begleiten und beraten, mahnte die Ukraine-Expertin Rebecca Harms, Europa-Abgeordnete der Grünen, "denn sie Ukrainer schaffen es nicht alleine." Die EU habe sich in der Vergangenheit wiederholt zurückgezogen und den Ukrainern sinngemäß gesagt, sie sollten schön weitermachen mit ihren Reformen. "Das ist kühn", kritisierte Harms. Ohne eine spürbare Verbesserung der Lebensbedingungen, so die einhellige Meinung der Fachleute, könne die Ukraine kein stabiles Land werden. Reform-Rhetorik gebe es genug in der ukrainischen Führung, aber zu wenige tatsächliche Veränderungen.

Vom Maidan ins Parlament

Zweimal schon sind die Ukrainer für ihre Ziele auf die Straße gegangen: Bei der orangenen Revolution im Jahr 2004 und den Protesten auf dem Maidan im vergangenen Winter. Die Errungenschaften der orangenen Revolution wurden in den politischen Streitigkeiten der darauffolgenden Jahre größtenteils wieder zerrieben. Damit das nicht wieder passiert, kandidieren zahlreiche Aktivisten des Maidan für die Parlamentswahl Ende Oktober, darunter auch Jehor Sobolew und Mustafa Najem.

Barrikaden in Kiew (Foto: Ria Novosti)
"Das Erbe der Maidan-Proteste wahren"Bild: picture-alliance/RIA Novosti/Andrey Stenin

"Es ist das erste Mal in der Geschichte der Ukraine, dass Journalisten und Aktivisten in die Politik gehen, weil sie es selbst wollen", sagte Najem. Er habe vor der Wahl gestanden, so der 33-Jährige, die Regierung weiter zu kritisieren oder mitzuhelfen, das alte System zu beseitigen. Najem, der auf der Liste von Petro Poroschenko antritt, bekommt dafür von Kollegen und Freunden einiges an Kritik zu hören. "Wer sagt denn, dass ein Politiker korrupt sein, stehlen und lügen muss? Das sind nicht meine Regeln." Er sei zu der Erkenntnis gelangt, so Najem, dass soziale Mobilisierung sich auch in politischer Aktivität niederschlagen müsse. Andernfalls könnten die Ideen und Ideale der Protestbewegung unwiederbringlich verlorengehen.