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Politik

Verfassungsreferendum unter der Lupe

Diego Cupolo
10. April 2017

Murat Sevinc, türkischer Verfassungsrechtler, war nach der Unterzeichnung eines Friedensaufrufes entlassen worden. Er spricht sich weiterhin gegen das von Präsident Erdogan vorgeschlagene Präsidialsystem aus.

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Türkei Istanbul Rede Erdogan
Bild: Getty Images/AFP/O. Kose

DW: Ein Präsidialsystem für die Türkei haben in der Vergangenheit schon viele Politiker befürwortet. Was macht ein derartiges System für Erdogan und seine Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) so interessant?

Murat Sevinc: Die türkische Rechte unterstützt die Idee eines Präsidialsystems seit den 1960er Jahren. Doch in der Vergangenheit ähnelte diese Vorstellung eher dem US-amerikanischen System, mit dem das System, um das es jetzt geht, keine Ähnlichkeit hat. Die Parteien vom rechten Flügel in der Türkei haben seit den 1950er Jahren immer Wahlergebnisse um die 60 Prozent erzielt. Nur einmal, im Jahr 1977, schaffte es Bülent Ecevit, Vorsitzender der linksliberalen Republikanischen Volkspartei (CHP), mehr als 40 Prozent der Wählerstimmen zu gewinnen. Deshalb wissen die Konservativen sehr genau, dass sie mit einer sicheren Mehrheit rechnen können, wenn sie eine brauchen.

Seit dem fehlgeschlagenen Staatsstreich im letzten Jahr herrscht in der Türkei der Ausnahmezustand. Welchen Einfluss hat das derzeitige politische Klima auf die Volksabstimmung?

Die Verfassung zu ändern, während der Ausnahmezustand herrscht, widerspricht Logik und Demokratie. Das ist nicht vertretbar. Die Venedig-Kommission (Europäische Kommission für Demokratie durch Recht, eine Einrichtung des Europarates, die verfassungsrechtliche Ratschläge gibt - Anm. der Red.) ist zu dem gleichen Ergebnis gekommen. Jedoch wollen AKP-Funktionäre den Ausnahmezustand nicht aufheben, weil er ihnen erlaubt, mit Hilfe von Dekreten zu regieren, und das kommt ihren Zielen entgegen. Das Einzige, das sie interessiert, ist eine "Ja"-Stimme. Unter diesen Umständen ist der Ausnahmezustand gar nicht das eigentliche Problem. Das eigentliche Problem ist, dass die vorgeschlagenen Verfassungsänderungen zunächst das Prinzip der Gewaltenteilung beschädigen würden, was wiederum die Demokratie schwächen wird. Der Ausnahmezustand bringt nur zusätzliche Würze.

Wenn das Referendum Erfolg hat, wird die Anzahl der Parlamentsabgeordneten von 550 auf 600 erhöht. Welche strategische Bedeutung hat das?

Dafür kann es zwei Gründe geben: die Macht des Parlaments einzuschränken und/oder es empfänglicher für den Einfluss des Präsidenten zu machen [mehr Abgeordnete könnten die Glaubwürdigkeit und damit die Bedeutung des Parlaments einschränken - Anm. d Red.]. Wahrscheinlich rechnet die AKP damit, bei den nächsten Wahlen mehr Sitze zu erringen und so sicherzustellen, die Macht problemlos im Griff zu behalten.

Bei Ihren Auftritten in Radiotalkshows haben Sie gesagt, dass es in den vorgeschlagenen Verfassungsartikeln viele Widersprüchlichkeiten gibt. Können Sie das näher erläutern?

Murat Sevinc, ehemaliger Staatsrechtsprofessor an der Universität Ankara
Murat Sevinc, ehemaliger Staatsrechtsprofessor an der Universität Ankara Bild: I. Yavuz

In diesen Artikeln finden sich zu viele Probleme. Einige davon sind beabsichtigt, andere durch Nachlässigkeit entstanden. Dass der Präsident das Recht haben soll, das Militär einzusetzen, widerspricht den Recht, das der Großen Nationalversammlung der Türkei vorbehält, einen Krieg zu erklären. Es ist auch nicht klar, wie viele Vizepräsidenten der Präsident ernennen kann oder welche Qualifikationen diese Kandidaten erfüllen müssen. Unklar ist auch, wer ihm nachfolgen soll, wenn er das Amt früher als vorgesehen abgibt. In einem Artikel steht, dass der Präsident für zwei Amtszeiten gewählt werden kann. In einem anderen Artikel steht jedoch, dass der Präsident erneut kandidieren kann, wenn es in seiner zweiten Amtszeit zu Neuwahlen kommt. Auf diese Weise kann er unter den richtigen Umständen 15 Jahre im Amt bleiben.

Zu den Oppositionsparteien: Devlet Bahceli, langjähriger Vorsitzender der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) hat seine Unterstützung eines Präsidialsystems bekundet und dazu beigetragen, dass die Volksabstimmung möglich wurde. Was hat er davon?

Wahrscheinlich tut er das, um nicht noch mehr Stimmen von Nationalisten zu verlieren. Seit dem Ende der Friedensverhandlungen mit den kurdischen Aufständischen hat die MHP viele Stimmen an die AKP abgeben müssen. Vielleicht versucht er, weiteren Schaden von seiner Partei abzuwenden. Davon abgesehen, wissen wir sehr wohl, dass die Säuberungen der letzten Monate viele Posten in der öffentlichen Verwaltung verwaist hinterlassen haben. Diese Posten müssen wieder besetzt werden. Möglicherweise sind MHP-Unterstützer die wahrscheinlichsten Kadidaten dafür.

13 Mitglieder der linksgerichteten Demokratischen Partei der Völker (HDP) sitzen zur Zeit im Gefängnis. Gleichzeitig wurden Oppositionelle festgenommen, während sie für "Nein"-Stimmen warben. Welche Auswirkungen können solche Repressionen auf die Abstimmung haben?

AKP-Wähler sind von der Haft für kurdischen Politiker weder betroffen noch beeindruckt. Das ist nicht ihre Welt. Es interessiert sie nicht. Andererseits werden Zehntausende entlassen oder verhaftet, weil sie angeblich Beziehungen zu Fetullah Gülen haben, dem Prediger im Exil, der für den fehlgeschlagenen Staatsstreich verantwortlich gemacht wird. Viele von ihnen waren Mitglieder der religiösen Gemeinde und hatten für die AKP gestimmt. Zum ersten Mal sehen diese Wähler, wie ihre eigenen Leute Opfer der Politik werden, und das wird zweifellos bedeutende Folgen haben.
 

In den vergangenen Jahren ist die Anzahl von Volksabstimmungen und Volksbefragungen dramatisch angestiegen. Wie hilfreich ist ein Referendum zur Feststellung des öffentlichen Willens?

Nur in demokratischen Gesellschaften können Referenden demokratische Ergebnisse bringen. Es ist sehr wichtig, dass sich Menschen in allen Ebenen von Regierung und Verwaltung engagieren. Aber Teilhabe bedeutet nicht, ab und zu Menschen Fragen zu stellen, die sie nicht wirklich verstehen. Zunächst brauchen wir eine gut informierte Öffentlichkeit. Die Medien müssen frei sein, die Wege, über die sich die Öffentlichkeit informiert, geschützt. Das ist die einzige ehrliche Art, ein Referendum abzuhalten.

Murat Sevinc, Professor für Verfassungsrecht an der Universität Ankara, wurde im Februar zusammen mit 330 Kollegen entlassen, weil er einen Friedensaufruf unterzeichnet hatte. Obwohl arbeitslos und ohne die Erlaubnis, ins Ausland zu reisen, ist er nach wie vor einer der führenden türkischen Rechtsexperten.