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Türkische Landwirte überleben nur mit Schulden

Pelin Ünker | Burak Ünveren
1. März 2024

Genau wie in Deutschland sind auch in der Türkei die Bauern mit ihren Arbeitsbedingungen unzufrieden, auch wenn sie nicht auf die Straße gehen. Sie verschulden sich immer weiter, um zu überleben.

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Ein türkischer Bauer mit seinem Traktor auf dem Feld
Ein Bauer im Südosten der Türkei Bild: Felat Bozarslan/DW

In mehreren europäischen Ländern protestieren Bauern für bessere Arbeitsbedingungen, beziehungsweise gegen den Abbau der ihnen gewährten Subventionen. In Deutschland, Frankreich, Rumänien, Spanien, Griechenland und Italien sind sie mit ihren Traktoren auf die Straße gegangen.

Die europäischen Bauern sind nicht die einzigen, die sich vom Staat im Stich gelassen fühlen.

Die türkischen Bauern sind wütend darüber, dass der Staat sie nicht ausreichend unterstützt. Genauso wie in Europa sind die Bauern in der Türkei mit ihren Arbeitsbedingungen und den staatlichen Subventionen unzufrieden. Anders als in Europa gehen sie aber - bisher - nicht auf die Straßen. Dabei hätten sie noch schlechtere Bedingungen als ihre europäische Kollegen, betonen türkische Agrarvertreter. "Einer der grundlegenden Faktoren für die Agrarproteste in Europa war, dass die Hilfen beim Agrardiesel gekürzt werden. In der Türkei gibt es sowieso keine Steuervergünstigung beim Agrardiesel", erklärt Baki Remzi Suicmez, Präsident der Kammer der Landwirtschaftsingenieure der Türkei.

Der türkische Bauer Abdurrahman Durgun bei der Aussaat auf einem Feld
Der türkische Bauer Abdurrahman Durgun bei der Aussaat auf einem Feld im Südosten der TürkeiBild: Felat Bozarslan/DW

Die vorhandenen staatlichen Finanzhilfen seien nicht genügend, so die Landwirte: Die vorhandenen Hilfen reichen nicht aus, um die Produktion wirtschaftlich am Laufen zu halten, beklagt sich Suicmez. "Während die Inflation stetig zunimmt und fast die 70-Prozent-Marke erreicht, reicht die finanzielle Unterstützung nicht", sagt er.

Laut offiziellen Angaben der türkischen Behörden betrug die Jahresinflation in der Türkei etwa 64 Prozent. Laut den Berechnungen der Unabhängigen Forschungsgruppe Inflation (Inflation Research Group - ENAG) liegt diese sogar bei etwa 127 Prozent. Im Vergleich litt Deutschland 2023 unter einer durchschnittlichen Jahresinflation von 5,9 Prozent.

44,5 Prozent mehr Etat reichen nicht

Der Etat des türkischen Landwirtschaftsministeriums für die Hilfen an die Bauern wurde 2024 sogar um 44,5 Prozent erhöht und lag damit bei etwa 2,7 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Laut dem Institut der deutschen Wirtschaft (IW Köln) erhielten 2022 deutsche Landwirte rund 6,9 Milliarden Euro aus dem EU-Agrarfonds plus weitere 2,3 Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt.

Trotz der Erhöhung des Etats decken die Finanzhilfen für die Landwirtschaft in der Türkei die Kosten der einzelnen Landwirte bei weitem nicht. Die Preise für Input-Produkte wie Agrardiesel, Medikamente, Tierfutter, Düngemittel und Samen steigen stetig. Laut den Daten des Türkischen Verbands der Landwirtschaftskammer (TZOB) erhöhten sich je nach Art die Preise für Düngemittel um 16 bis 25 Prozent, für Futter um 41 bis 43,3 Prozent und für Medikamente um 16,7 Prozent. Gleichzeitig wurde Agrardiesel im vergangenen Jahr 79 Prozent teurer. Besonders der Agrardiesel ist lebensnotwendig für jede einzelne Stufe der Produktion, betonen Industrievertreter.

Diese Preiserhöhungen können von den aktuellen Staatshilfen nicht gedeckt werden. Die einzige Lösung: Die türkischen Bauern müssen Kredite aufnehmen und verschulden sich damit immer weiter, erklärt Suicmez.

Ein Traktor mitten auf einem Feld
Der Agrardiesel spielt eine lebenswichtige Rolle für die LandwirtschaftBild: Felat Bozarslan/DW

Währungskrise schadet (auch) den Bauern

Der Präsident des Türkischen Verbands der Landwirtschaftskammer (TZOB) Semsi Bayraktar zeichnet ein düsteres Bild über die Zukunft der Bauern. "Unsere Bauern müssen sich darüber schon jetzt im Winter Gedanken machen, wie sie den Agrardiesel im Frühling bezahlen können. Agrardiesel ist für uns ein unverzichtbares Produktionsmittel", so Bayraktar.

Der Grund, der hinter der Erhöhung der Preise steckt, ist eigentlich ein finanzpolitischer: Die Preise dieser Produkte basieren auf US-Dollar und mit jedem Schritt, den die Türkische Lira noch ein Stück ihres Wertes verliert, wird das Leben der Bauern schwieriger.

Anders als in Europa leidet die Türkei seit mehreren Jahren unter einer Wirtschaftskrise. Die Kaufkraft nahm in den letzten Jahren stark ab. Die Türkische Lira (TL) hat dramatisch an Wert verloren: Für einen Euro musste man im Jahr 2014 circa 2,90 Lira zahlen. Heute muss man dafür circa 34 Türkische Lira bezahlen.

80 Prozent mehr Schulden in einem Jahr

Der Betrag, den die Bauern den Banken schulden, stieg im vergangenen Jahr um 80 Prozent an. Laut der offiziellen Statistik schulden sie den Banken heute 118 Mal mehr als vor 19 Jahren.

In dem genannten Zeitraum wurden die Finanzhilfen dahingegen nur verzwanzigfacht, erklärt Orhan Saribal, Abgeordneter der größten Oppositionspartei, der Republikanischen Volkspartei (CHP). Er ist Agraringenieur und Landwirt. "2004 betrugen die Kredite, die für die Produktion in Agrar-, Forst- und Tierwirtschaft angewendet wurden, 1,7 mal so viel wie die Staatshilfen. 2023 betrugen die Kredite 9,6 mal so viel", so Saribal.

Die Schulden der Bauern gegenüber den Banken und dem Staat betragen heute insgesamt 700 Milliarden Türkische Lira (ca. 21 Milliarden Euro), so Suicmez. In Anbetracht der türkischen Kaufkraft sind 21 Milliarden Euro von großer Bedeutung. Etwa 17,2 Milliarden Euro davon sind an private Banken zurückzuzahlen, während etwa 600 Millionen Euro vom Staat, nämlich vom Landwirtschaftsministerium geliehen wurden; der Rest stammt von privaten Firmen.

"Die Bauern werden vom Staat nicht ausreichend unterstützt. Deswegen wenden sie sich - aus Verzweiflung - an private Banken", klagt Saribal und fordert mehr Rückendeckung vom Staat.

Ein Landwirt trägt Kartoffeln und Zwiebeln
​​​​​​Die Landwirtschaft spielt eine wichtige Rolle für die TürkeiBild: DHA

Eine wichtige Branche für die Türkei

Laut offiziellen Statistiken macht die Landwirtschaft rund 5,8 Prozent an der Bruttowertschöpfung der Türkei aus. In Deutschland liegt dieser Wert nur bei rund 0,8 Prozent, in der gesamten EU bei rund 1,4 Prozent. Etwa 4,6 Millionen Menschen in der Türkei sind in der Landwirtschaft tätig. Laut der offiziellen Statistik aus dem Jahr 2022 arbeiten knapp 16 Prozent aller Arbeitskräfte in der Landwirtschaft.

Die Bauern rufen den Staat dazu auf, mehr für sie zu tun - weil es am Ende um den Wohlstand aller Bürger geht. Falls ein Bauer seine Schulden nicht zurückzahlen kann, verliert er sein Grundstück, seinen Traktor oder seine Tiere, beklagt sich Suicmez. "Um das Problem zu lösen, müssen die Produktionskosten verringert und das Einkommen der Bauern erhöht werden. Das alles gehört zusammen", sagt Suicmez und fügt hinzu:

"Wenn das nicht passiert, werden die Produktionskosten außer Kontrolle geraten. Als Folge davon werden die Verbraucher bestimmte Produkte vielleicht in den Regalen im Supermarkt sehen, aber eher stehen lassen, weil sie sich diese gar nicht leisten können."

DW Mitarbeiter l Burak Ünveren, DW-Journalist
Burak Ünveren Redakteur. Themenschwerpunkte: Türkische Außenpolitik, Deutsch-Türkische Beziehungen.