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Türkei ruft Botschafter aus Berlin zurück

2. Juni 2016

Der Bundestag hat die vor hundert Jahren verübten Verbrechen an den Armeniern im Osmanischen Reich als "Völkermord" bezeichnet. Die Türkei spricht von einem "historischen Fehler" und beordert ihren Botschafter zurück.

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Abstimmung im Bundestag über Armenienresolution (Foto. Getty Images/AFP)
Bild: Getty Images/AFP/O. Andersen

Fast einstimmig beschloss das Parlament die Resolution. In dem von Union, SPD und Grünen eingebrachten Text wird die Tötung von bis zu 1,5 Millionen christlichen Armeniern und anderen christlichen Minderheiten in den Jahren 1915 und 1916 ausdrücklich "Völkermord" genannt.

Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) verurteilte die Einschüchterungsversuche gegenüber deutschen Abgeordneten im Vorfeld des Antrag zur Erinnerung an den Genozid. Insbesondere gegenüber Kollegen mit türkischem Familienhintergrund sei es zu Drohungen gekommen, sagte Lammert zu Beginn der Debatte im Bundestag. "Drohungen mit dem Ziel, die freie Meinungsbildung des Deutschen Bundestages zu verhindern, sind inakzeptabel", betonte Lammert. Man werde sie nicht hinnehmen und sich "ganz gewiss" davon nicht einschüchtern lassen.

Bundestagspräsident Norbert Lammert (Foto: picture-alliance/dpa)
Bundestagspräsident Norbert Lammert verurteilt DrohungenBild: picture-alliance/dpa/M. Kappeler

Lammert appellierte an die Türkei, zur Aufarbeitung der Vergangenheit und Versöhnung mit Armenien beizutragen. Die deutsche Geschichte lehre, dass ehrliche und selbstkritische Auseinandersetzung Voraussetzung für Verständigung sei. "Die heutige Regierung in der Türkei ist nicht verantwortlich für das, was vor 100 Jahren geschah, aber sie ist mitverantwortlich für das, was daraus in Zukunft wird", sagte der Bundestagspräsident.

Aufrufe zur Aufarbeitung der Geschichte

In der Bundestagsdebatte verwies der SPD-Außenexperte Rolf Mützenich darauf, dass Deutschland aus eigener Erfahrung wisse, wie mühevoll und schmerzlich die Aufarbeitung der eigenen Geschichte sei. "Heute wünschen wir uns eine Türkei, die in vergleichbarer Offenheit und Größe einem dunklen Kapitel ihrer Geschichte gerecht wird." Unionsfraktionsvize Franz Josef Jung (CDU) betonte: "Uns geht es nicht darum, die Türkei an den Pranger zu stellen. Die Türkei sei ein wichtiger Partner. Gerade deshalb sei es wichtig, den Weg der Aufarbeitung der Vergangenheit zu beschreiten.

Armenier verfolgen die Abstimmung im Bundestag von der Besuchertribüne aus (Foto: Reuters)
Armenier verfolgen die Abstimmung von der Besuchertribüne ausBild: Reuters/H. Hanschke

In der Debatte um den Armenien-Antrag beklagte Grünen-Parteichef Cem Özdemir die aktuelle Christenverfolgung im Nahen Osten. Wenn man heute in die Region blicke, sehe man, dass Christen wieder verfolgt würden – "im Irak, in Syrien, auch in der Türkei".

Nach monatelangem Gezerre hatten sich die drei Fraktionen auf den gemeinsamen Antrag geeinigt. Der Text spricht schon in der Überschrift von dem "Völkermord an den Armeniern". Das Wort taucht dann noch zwei mal auf. Der Schlüsselsatz über die Armenier lautet: "Ihr Schicksal steht beispielhaft für die Geschichte der Massenvernichtungen, der ethnischen Säuberungen, der Vertreibungen, ja der Völkermorde, von denen das 20. Jahrhundert auf so schreckliche Weise gezeichnet ist."

Bekenntnis zur Mitschuld des Deutschen Reichs

Das Parlament bedauert in der Resolution ausdrücklich auch die unrühmliche Rolle des Deutschen Reiches. Im Ersten Weltkrieg habe Deutschland als militärischer Hauptverbündeter des Osmanischen Reichs trotz eindeutiger Informationen über die organisierte Vertreibung und Vernichtung der Armenier nicht versucht, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu stoppen.

Türkei: Resolution "null und nichtig"

Aus Protest gegen die Armenien-Entschließung des Bundestages ruft die Türkei ihren Botschafter aus Berlin zurück. Gleichzeitig zitierte die Regierung in Ankara den Geschäftsträger der deutschen Botschaft ins Außenministerium.

Die Türkei als Rechtsnachfolger des Osmanischen Reichs bedauert die Massaker an den Armeniern, bestreitet aber, dass es sich um Völkermord gehandelt habe. Die Einstufung durch den Bundestag als Völkermord löste Empörung aus. Die Regierung in Ankara bezeichnete die Resolution als "null und nichtig". Das deutsche Parlament habe die Massaker an den Armeniern im Ersten Weltkrieg auf der Grundlage "verzerrter und gegenstandsloser Unterstellungen" als Völkermord eingestuft und damit einen "historischen Fehler" gemacht, erklärte Regierungssprecher Numan Kurtulmus im Kurzbotschaftendienst Twitter. Für die türkische Regierung sei die Entscheidung daher gegenstandslos.

Steinmeier: "Hoffe, dass die Türkei nicht überreagiert"

Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier sagte der Deutschen Welle bei einem Besuch in Argentinien, es handele sich um eine "unabhängige Entscheidung des Bundestags". Die Türkei habe "erwartungsgemäß" darauf reagiert. Weiter sagte Steinnmeier: "Ich hoffe, wir können in den nächsten Tagen dafür sorgen, dass es zu keinen Überreaktionen kommt."

Bundeskanzlerin Angela Merkel, die an der Sitzung des Bundestages auch nicht teilgenommen hatte, hob nach Verabschiedung der Völkermord-Resolution die freundschaftlichen und strategischen deutsch-türkischen Beziehungen hervor. Deutschland und die Türkei verbinde vieles, auch wenn man in einzelnen Fragen unterschiedlicher Meinung sei, sagte Merkel in Berlin.

Die Bundesregierung möchte dazu beitragen, so die Kanzlerin weiter, gerade vor dem Hintergrund der Ereignisse vor 101 Jahren, einen Dialog zwischen der Türkei und Armenien zu befördern. Den Menschen türkischer Abstammung in Deutschland wolle sie sagen, dass sie hier nicht nur willkommen seien, sondern ein Teil des Landes seien und blieben, betonte Merkel.

Bis zu 1,5 Millionen Todesopfer

Nach Schätzungen von Historikern kamen bei den Massakern während des Ersten Weltkriegs zwischen 800.000 und 1,5 Millionen Armenier ums Leben, sowie Aramäer und Angehörige weiterer christlicher Minderheiten.

Bislang haben mehr als 20 Staaten, darunter Frankreich, Italien und Russland, die Massaker als Völkermord eingestuft. Der armenische Präsident Sersch Sarkissjan nannte die Völkermord-Resolution des Bundestags "sehr wichtig" für sein Land.

qu/stu (phoenix, dpa, afp, rtr, epd, kna)