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Tymoschenko: "Postsowjetische Länder werden bald die Ukraine beneiden"

16. August 2007

Nach Meinung der Vorsitzenden des ukrainischen Wahlbündnisses BJUT, Julija Tymoschenko, ist die derzeitige Krise in der Ukraine hilfreich für die demokratische Entwicklung des Landes.

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Julija Tymoschenko will europäische Standards für die UkraineBild: dpa-Report

DW-WORLD.DE/Russisch: Frau Tymoschenko, was gibt Ihnen die Kraft und Energie, eine führende Politikerin in einem solch komplizierten Land wie der Ukraine zu sein?

Julija Tymoschenko: Ich denke, dass jeden Menschen sein Traum bewegt. Mein Traum ist, eine schöne Ukraine zu sehen, die nicht nur für sich selbst einen gerechten Lebensstandard aufbaut, sondern vielen Völkern unserer Welt auch als ein gewisses Vorbild dienen kann. Es ist ein ehrgeiziger Traum, aber er gibt mir Kraft, er bewegt mich und ermöglicht mir, mit allen Schwierigkeiten zurechtzukommen.

Putins Russland wendet Ihrer Ansicht nach brutale Methoden im Umgang mit seinen ehemaligen Satelliten an.

Diese Methoden sind ungerecht, weil jedes Land der ehemaligen Sowjetunion die Unabhängigkeit erlangt hat und damit das Recht, seine nationalen Interessen zu formen und diese im geopolitischen Raum zu verfolgen. Die Taktik Russlands ist falsch, dieser Freiheit irgendwelche Instrumente, Hebel entgegenzusetzen, um die Abhängigkeit aufrechtzuerhalten. Aber nicht nur Russland ist daran schuld, dass sich solche Beziehungen herausbilden. In erster Linie sind die politischen Führer und Eliten der Länder daran schuld, die ihre Unabhängigkeit erlangt haben, sich aber trotzdem irgendwie in einer Vasallen-Rolle fühlen. Sie halten die politische und manchmal auch ökonomische Unterordnung ihres Landes unter die Russischen Föderation aufrecht. Solche Politiker, darunter auch in der Ukraine, sollten so schnell wie möglich von der politischen Bühne abtreten.

Welche Ziele verfolgt Russland derzeit gegenüber der Ukraine?

Ich denke, dass Russland die Ukraine in seiner Einflusssphäre behalten möchte. Und dafür nutzt es alle Abhängigkeiten der Ukraine von Russland aus, die sich historisch ergeben haben, darunter auch die Energie-Abhängigkeit und die gewisse Diffusion der Eliten. Aber je länger sich Russland anstrengt, jene Abhängigkeitssysteme aufrechtzuerhalten, desto länger werden sich unsere Beziehungen nicht normalisieren können.

Ihrer Meinung nach besteht in der russischen Politik eine Tendenz, den Expansionismus wieder aufleben zu lassen. Welche Rolle hat Ihrer Ansicht nach die Ukraine beim Widerstand gegen einen solchen Expansionismus?

Die Rolle der Ukraine ist vor allem im Energiebereich sehr wichtig. Die Ukraine ist die Brücke zwischen den Ländern, die über gewaltige Naturressourcen verfügen, und der Europäischen Union, den Ländern, die diese Energieressourcen heute brauchen. Die Ukraine ist ein Transitland und deshalb sehen wir für uns eine Rolle beim maximalen Aufbau von Wegen zur Diversifizierung von Energielieferungen nach Europa und auf das Gebiet der Ukraine. Wir wissen, dass die Ukraine die notwendigen Transitleitungen für Gas bauen kann, zusätzlich zu den notwendigen schon vorhandenen Erdölleitungen. Wir wissen, dass wir der EU eine große Menge Strom zu erschwinglichen Preisen liefern können. Und diese Funktion soll die Ukraine in Freiheit erfüllen. Wenn die Ukraine diese politische Freiheit erhält, dann können wir für die gesamte Region ein Energie-Gleichgewicht schaffen.

Warum setzen Sie in Ihrem politischen Programm auf die Integration in die Europäische Union und nicht auf die Integration mit Russland im Rahmen des Einheitlichen Wirtschaftsraums?

Die europäischen Länder, besonders die des alten Europa, wollen die Ukraine ungern schnell in der EU sehen. Gleichzeitig sind zwei Drittel unseres Landes nicht bereit, sich als Teil der autoritären Gebilde zu sehen, die heute um Russland herum bestehen. Deshalb wird kurz- und mittelfristig die Ukraine für Ordnung sorgen und europäische Standards im eigenen Haus einführen, und erst dann über alle möglichen Integrationsprozesse diskutieren. Deswegen werden wir mittelfristig Europa in der Ukraine aufbauen.

Was halten Sie von einem Beitritt der Ukraine zur NATO?

Zuallererst muss ich sagen, dass die Ukraine in dieser Frage sehr tief gespalten ist. Das muss man berücksichtigen, wenn man Politik macht. Deshalb müssen heute die politischen Kräfte in Ukraine mit einer umfassenden Diskussion über alle Systeme der kollektiven Sicherheit in der Welt beginnen. Sogar viele Politiker wissen heute nicht, worin der Sinn und Zweck des einen oder anderen kollektiven Sicherheitssystems besteht - vom Volk ganz zu schweigen. Wir sind überzeugt, dass sich die Ukraine auf das eine oder andere System der kollektiven Sicherheit nur nach einem Referendum hinbewegen kann. Ob es den Politikern gefällt oder nicht gefällt, sie sind verpflichtet, sich in solchen strategischen Entscheidungen auf die Meinung der Nation zu stützen. Ich persönlich sehe die Ukraine im kollektiven Sicherheitssystem Europas.

Sind Sie in diesem Zusammenhang nicht etwas neidisch auf Russland, das eine immer energischere Außenpolitik verfolgt, während die Ukraine mit inneren Krisen beschäftigt ist und keine konsolidierte außenpolitische Linie hat?

Nein, im Gegenteil. Ich bin der Meinung, dass in der Ukraine eine qualitativ neue Ordnung wesentlich schneller entstehen kann als in Russland, weil bei uns ein gewisses Chaos herrscht, aber dieses Chaos ist der Beginn einer wahren Demokratie. Manchmal behindert eine starke Ordnung, so wie sie bei unseren Nachbarn besteht, den Aufbau von Harmonie innerhalb der eigenen Gesellschaft. Und deshalb bin ich überzeugt, dass schon bald viele postsowjetische Länder die Ukraine beneiden werden. Wir brauchen noch zwei-drei Jahre, um eine strategische Linie aufzeichnen zu könnten, um uns dann in richtiger Richtung zu bewegen.

Das Gespräch führte Sergej Morosow
DW-WORLD.DE/Russisch, 15.8.2007, Fokus Ost-Südost