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Tunesien in Aufruhr und Trauer

Sarah Mersch8. Februar 2013

Zwei Tage nach dem Mordanschlag auf Chokri Belaid ist der Oppositionspolitiker in Tunis unter großer Anteilnahme beigesetzt worden. "Wir werden die Täter fertig machen, das ist sicher", heißt es unter den Trauernden.

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Chokris Anwaltskollegen trauern um den Ermordeten (Foto: Sarah Mersch / DW)
Bild: Sarah Mersch

"Wir fordern den Sturz des Regimes", ruft eine aufgebrachte Menschenmenge, als sich am Freitag (08.02.2013) bei teils strömendem Regen ein kilometerlanger Trauerzug durch die Hauptstadt Tunis schiebt. Die Straßen sind schwarz von Menschen - Frauen, Kinder, Alte und Junge sind auf den Beinen. Hunderttausende sind gekommen, um Chokri Belaid das letzte Geleit zu geben. Das Innenministerium spricht sogar von 1,4 Millionen Demonstranten im ganzen Land - und das bei einer Gesamtbevölkerung von elf Millionen Einwohnern.

Viele können ihre Tränen auch zwei Tage nach dem Mord an dem linken Oppositionspolitiker nicht zurückhalten. "Ich bin in tiefer Trauer. Was denken sie denn, wie wir uns fühlen!? Ganz Tunesien trauert, alles ist schwarz", sagt eine Demonstrantin schluchzend. Was die Zukunft ihrem Land bringen werde, wisse sie nicht. "Aber eines ist sicher: Heute sind wir alle Chokri Belaid. Und wir werden die Täter fertig machen, das ist sicher."

"Papa, wer hat dich getötet?" steht auf dem T-Shirt von Belaids Tochter (Foto: Sarah Mersch/DW)
"Papa, wer hat dich getötet?" steht auf dem T-Shirt von Belaids TochterBild: Sarah Mersch

Den Islamisten die Stirn geboten

Von Belaids Elternhaus in Jebel Jelloud, einem Armenviertel im Süden der Hauptstadt, zieht der Trauermarsch zum größten Friedhof von Tunis. Von der Armee begleitet, wird Belaid am Nachmittag in einem Märtyrergrab beigesetzt. Ein ehemaliger Parteigenosse erinnert sich an den Anwalt und Menschenrechtler. "Chokri war ein integrer Aktivist. Er hat in diesem Leben nichts angehäuft außer der Liebe all dieser Menschen, die heute für ihn gekommen sind." Auch die, die nicht Belaids politische Positionen geteilt haben, hätten ihn geliebt. "Denn er hat sich getraut, den Islamisten und Feinden der Aufklärung die Stirn zu bieten."

Noch weiß man nicht, wer am frühen Mittwochmorgen (06.02.2013) vor seinem Haus in Tunis die tödlichen Schüsse auf Belaid abgegeben hat. Die meisten Tunesier sind sich allerdings einig, dass die Regierung unter Führung der Ennahdha-Partei und das Innenministerium die Verantwortung für das Verbrechen tragen.

Von der Armee wird der Sarg Chokri Belaids auf den Friedhof gebracht. (Foto: Sarah Mersch/DW)
Hunderttausende Tunesier strömen zur Beisetzung des Oppositionspolitikers Chokri BelaidBild: Sarah Mersch

Ein Elektroschock für Tunesien

Noch am Mittwoch hatte Premierminister Hamadi Jbeli angekündigt, die Regierung zu entlassen, doch seine eigene Partei stellte sich gegen ihn. Die politische Zukunft Tunesiens ist ungewiss, aber der Mord an Belaid hat die Gesellschaft und die Opposition geeint. Jetzt gehe es darum, nicht aufzugeben, meint eine Demonstrantin, die in die tunesische Flagge gehüllt ist. "Ich hoffe, dass dieser Elektroschock die Menschen dazu bringen wird, aufeinander zuzugehen." Das Wichtigste sei, die Extremisten aus der Politik auszuschließen und entschieden gegen Gewalt vorzugehen. "Deshalb müssen wir Hand in Hand mit den moderaten Kräften aller Lager zusammenarbeiten."

Als der Leichnam Belaids auf den Friedhof getragen wird, stimmt die Menschenmenge die Nationalhymne an. Unterdessen ziehen immer wieder Tränengasschwaden über den Friedhof. Nicht weit von der letzten Ruhestätte Belaids über den Hügeln von Tunis liefern sich Polizei und Jugendliche Straßenschlachten, Autos brennen. Auch vor dem Innenministerium im Stadtzentrum gibt es Auseinandersetzungen. Polizei-Einheiten und - vermutlich dem islamistischen Lager zuzurechnende - Schlägertrupps gehen auf Demonstranten los. Die politische Zukunft der Wiege des Arabischen Frühlings bleibt ungewiss.

Die Witwe Chokri Belaids hebt die Hand zum Victory-Zeichen. (Foto: Sarah Mersch / DW)
Die Witwe Chokri Belaids hebt die Hand zum Victory-ZeichenBild: Sarah Mersch