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Tschernobyl: Ein heimtückisches Erbe

Miodrag Soric20. April 2006

Die Tschernobyl-Katastrophe hatte nicht nur immense gesundheitliche Folgen für die Menschen vor Ort. Rückblickend bewirkte sie gewaltige Veränderungen, auch im politischen Bereich. Miodrag Soric kommentiert.

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Tschernobyl war ein Katalysator. Die Atomkatastrophe vom April 1986 hat nicht nur Europa verändert, sie löste Folgen von historischen Ausmaßen aus. Dazu trugen, wenn auch ungewollt, jene sowjetischen Funktionäre bei, die nach der radioaktiven Verseuchung ganzer Regionen und Städte Osteuropas nach der im Kommunismus bewährten Methode vorgingen: Zuerst die Bevölkerung belügen, dann die Folgen vertuschen. Das versuchten sie auch bei den ungeheuren Konsequenzen für Millionen von Menschen. Auch der damalige Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, erfuhr erst nach und nach von dem wahren Ausmaß der Katastrophe. Sein Verhältnis zum Apparat änderte sich. Fortan misstraute er dem politischen System, das ihn an die Macht gebracht hatte. Gorbatschow versuchte es zu reformieren, leitete die Politik der Transparenz, genannt Glasnost, und die der Umgestaltung, genannt Perestrojka, ein. Auch wenn er letztlich scheiterte: Wenige Jahre später endete der Kalte Krieg und der eiserne Vorhang fiel. Alles das war auch eine Folge von Tschernobyl.

Veränderte Energiepolitik

Der GAU, also der größte anzunehmende Unfall, veränderte die Energiepolitik vieler Staaten. Menschen erkannten, welche tödliche Gefahr von der Nutzung der Kernenergie ausgehen konnte. Parteien, die den Ausstieg aus dieser – wie sie meinen – unbeherrschbaren Technik forderten, zogen in europäische Parlamente ein. „Grüne Politiker“ übernahmen Regierungsverantwortung. Seitdem wird zumindest in Westeuropa die Entwicklung alternativer Energietechniken staatlich stark gefördert. Insbesondere Deutschland hat sich hier hervorgetan und ist - zu Recht - stolz darauf. Stolz kann es auch auf Dutzende Bürgerinitiativen sein, die den Tschernobyl-Opfern in Weißrussland und in der Ukraine mit Geld und Medizin helfen.

Den Schrecken bewältigen

Seit 20 Jahren nun versuchen Bürgerinitiativen, Parteien und Regierungen gemeinsam zu bewältigen, was eigentlich nicht zu bewältigen ist. Der radioaktive Fallout der Tschernobyl-Katastrophe verseuchte 400 mal stärker die Umwelt als die Atombombe von Hiroshima. Große Gebiete um Tschernobyl werden auf absehbare Zeit kontaminiert bleiben. Dort dürften eigentlich keine Menschen mehr wohnen. Zehntausenden von Menschen bleibt jedoch aus finanzieller Not nichts anderes übrig, als im Grenzland der Ukraine zu Weißrussland zu verharren. Den Regierungen in Minsk und Kiew fehlen die Mittel, um wirklich effizient gegen die Folgen der Katastrophe vorgehen zu können.

Langzeitfolgen noch immer nicht absehbar

Eine schlecht funktionierende Bürokratie tut ihr Übriges. Nach wie vor ist der eilig errichtete Sarkophag über dem Unfallreaktor löchrig. Die Risse sind groß und sichtbar. Tag für Tag dringt radioaktive Strahlung nach außen. Der Sarkophag ist inzwischen brüchig geworden, die Wände bröckeln unter der Betonlast. Es scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis sie zusammenbrechen. Geld für den Bau einer noch größeren Schutzhülle ist zwar vom Westen zur Verfügung gestellt worden. Doch die Errichtung des Betonmantels macht nur langsam Fortschritte.

20 Jahre nach der Atomkatastrophe sind die Langzeitfolgen immer noch nicht abzusehen. Fehlbildungen bei Neugeborenen im Umkreis des Todesmeilers haben deutlich zugenommen. Hunderttausende von so genannten Liquidatoren, also Menschen, die unmittelbar nach dem Unfall unter Einsatz ihres Lebens noch Schlimmeres zu verhüten versuchten – zum Teil mit blanken Händen – altern ungewöhnlich rasch. Viele erkranken an Krebs. Kaum jemand kümmert sich um sie. Auch hier fehlt es an Geld. Tschernobyl – das ist ein heimtückisches Erbe. Wir dürfen die Menschen in der Ukraine und in Belarus nicht sich selbst überlasen. Diese schwere Last ist - wenn überhaupt – nur gemeinsam, von den Menschen in Ost und West, zu tragen.